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Aufgelaufen

Aufgelaufen

Titel: Aufgelaufen
Autoren: Michael Koehn
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erwartet hatte, sowas wie Liebe und Vertrauen, wie Leidenschaft und geschäftlicher Erfolg, wie Ehre, Geld und Ruhm. Wohl auch deshalb fing sie an , zu stehlen, dies und das. Lebensmittel, Schnaps und Zigaretten. Und immer kam sie an der Kassiererin ungeschoren vorbei. Die sah sie nicht einmal prüfend an, so wie sie aussah, so rein und unschuldig, so freundlich durchdrungen, so ernst und wahrhaftig. So einfach ehrlich. Egal wie, einige wenige Lebensmittel bezahlte sie trotzdem immer. Die Flasche Schnaps, meist war es Asbach, die Zigaretten, Marke Juno, b e zahlte sie nie. Die Beute verschwand ungesehen in Pierres Schultasche und sie ging mit ihm an der Hand jedes Mal langsam und selbstbewusst aus dem Laden hinaus, als ob nichts gewesen wäre.
     
    Einmal trank Pierre (ehemals Alfred) vom Asbach, rauchte dazu, wie seine Mutter, mit abgespreiztem kleinen Finger eine Zigarette. Der Schnaps schmeckte fürchterlich, die Zigarette brachte ihn ins Husten. Beides zusammen hatte eine immense Wirkung. Ihm wurde glühend heiß, wie im Fieber, dann hundekalt, so dass er sich nackend auszog und wieder an, wieder aus, wieder an, und so fort. Seine Mutter, als sie ihn fand, war um ihn besorgt. Fragte, ob alles in Ordnung sei. Pierre antwortete mit Ja und litt. Etwas Besseres fiel ihm, Ödipus, nicht ein.
    Ab diesem Tag trank er abends Bier, das er selber gestohlen hatte. Rauchte. Und nicht nur das Bier beruhigte ihn, sondern auch das Wissen, selber etwas leisten zu können.
    Ansonsten änderte sich über die Jahre nichts. Der Vater war weg. Mutter betrank sich. Erich besuchte Mutter. Pierre onanierte. Nur seine Lehrer waren immer weniger von seinen schulischen Leistungen erbaut. Und als sie ihn rauchend, trinkend, onanierend auf dem Schulklo erwischten, war die Geduld aller zu Ende. Seine auch. Der Junge gehört ins Internat, ve r schaffte sich der Onkel freies Schussfeld. Was Pierre am Arsch vorbe i ging. Onanieren, rauchen, trinken konnte man anderswo auch. Und er sagte zur Mutter: „Dann gehe ich eben“, ungeliebt, wie er sich fühlte. Immerhin blieben ihm Bier, Juno, Gliederschwäche, Blutarmut, Her z flimmern und jede Menge Flecken auf Hemd und Hose. Das war nicht schlecht, für den Anfang. Meinte er. Warum er denn ins Internat geko m men wäre, fragte der Typ von der Jugendgerichtshilfe, als er das erste Mal in U-Haft saß.
    „Ich bin das Böse. Wie du“, antwortete er dem.
    „Erzähl mal!“
     
    Jetzt allerdings, als er über den Kinderkram nachdachte, musste er da r über lachen. Er schnitt sich gerade die Zehennägel und auch einer von denen war immer das Böse. Es war regelmäßig der rechts außen. Der wuchs am schnellsten, obwohl er alle gleichmäßig kurz schnitt. Er war auch derjenige, weshalb Pierre zum Schneiden so oft ran musste. Der ru i nierte ihm nämlich mit seiner hervorstechenden Aufsässigkeit die Strüm p fe.
     
    „Schon in meiner Jugend wurde ich das Böse genannt. Meine Mutter e r zählte mir zum Einschlafen oft Kindergeschichten, auch die, wo alle zehn Finger am Pflaumenpflücken beteiligt sind. Neun waren gut, einer fraß die Pflaumen auf. Das musste meiner gewesen sein. Später bohrte genau der sich in Mädchenmösen und sonstwohin, der ballte mit anderen zusammen sogar eine Faust, der Böse.
     
    Ich war böse. War knapp elf Jahre alt, hatte erste Haare da unten dran, saß auf dem Sofa und spielte mir am Ding.
    Mutter hatte nebenan eine Freundin zu Besuch und die einen Hund. E i nen Foxterrier, der ständig kläffte. Ich, im Nebenraum, untersuchte im Licht der Tischlampe meinen Puller auf Ameisen. Denn früh am Morgen hatte ich mir nach dem Pinkeln im Park eine daraufgesetzt.
    Letzte Woche war’s eine Schnecke. Nach Tagen lag die Schnecke tot in meinem Bett.
    Eine Eidechse wäre schön, dachte ich, als ich die Ameise nicht gleich fand. Eventuell war die fünfun dzwanzig Wattbirne schuld daran. Une r wartet ging die Tür einen Spalt auf und der Terrier hechelte herein. ‚Der kann Türen öffnen‘, sagte der Besuch meiner Mutter stolz. Der Hund sprang geifernd auf das Sofa und inspizierte seinerseits mein Ding – wohl nach Ameisen oder Schnecken, Eidechsen, was weiß ich, als plötzlich beide Oberlichter flammten, fünfzig Watt, und die Tante, so musste ich den weiblichen Besuch meiner Mutter immer nennen, im Raum stand. Die Tante sah die Szene und keifte los: ‚Du bist das Böse, du Schwein!‘ Und Mutter, die ins Zimmer stürzte, schrie auch: ‚Du bist das Böse!‘ So wusste ich: Ich
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