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Aufgelaufen

Aufgelaufen

Titel: Aufgelaufen
Autoren: Michael Koehn
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Jackentasche fischte er Brieftasche, Wagenschlüssel, Parkticket. Geld, das der im Überfluss hatte. Und darüber wunderte sich Pierre. Der wollte bezahlen und überfiel ihn? Oder was? Egal – fragen wollte er nicht. Nein, nicht schon wieder die Suche nach dem, was sich unter Oberflächen a b spielte. Nicht bei dem, nicht bei sich – nirgendwo.
     
    Pierre riegelte die Kabufftür ab und stieg über die Seitenabtrennung ins Nachbarklo, kam ins Freie. Wusch die Hände, das Gesicht. Spülte Rot wie Tod ins Waschbecken. Im Restaurant legte er einen Schein auf den Tisch. Fête.
     
    Den Daimler des Dicken parkte er am Kurhaus in Bad Bevensen. Dort bemerkte man derartige Protzschlitten nicht. Den Rest Weges bewältigte er mit Bahn und Taxe, nur nicht auffallen. Dann lag er im Bett, ei Marie. Und seine Augen, sein Kinn wurden nass. Er träumte vom Knast, der L e gion, vom Vater. Und, dass das nie ein Ende nehmen würde. Wie auch …
     
    „Immer gerate ich in die Scheiße“, als sie ihn weckte, fragte sie, warum er weinte. Das Mitgefühl des D-Zugs namens Marie überrollte ihn. Ihre menschliche Wärme. Anteilnahme, Mitleid, ihm so fremd, so beieinander Stirnen und Münder. Denken und nicht, Hände und sehnen. Sie liebte ihn. Und er?
    „Oh Herr, nimm mein Leben in deine Hände. Amen!“
     

15
     
     
    Der Kahn wuchs von drinnen nach draußen. Aus nichts wurde was, das man nicht sah. Hart wurde weich, wurde er. Aus Holz wurde alles andere. Wurde besser als vorher. Fenster, Boden, Tische, Stühle, Küche, Klo. Außen blieb es gleich, wie er. Dann die Eröffnung. Das Dorf Schnacke n burg, das eine Stadt war, feierte mit. Abgeschossene Freudenfeuer zisc h ten über Land und Wasser, hoch über Prominente, Sekt, Bier und Wein. Die unten sah man nicht. Der Pfarrer ging als letzter, wünschte Glück und Segen allerwegen.
    „Mann, kann der einen Stiefel vertragen“, wunderte sich Marie.
    „Und dann hat der mir immer auf den Bauch geschielt. Meinst du, der dachte ich bin schwanger?“
    „Ich glaube, der war einfach nur glücklich.“
    „Meinst du Glück ist ansteckend?“
    „Nö, eher nicht. Der hat ´ne Spende im Opferstock gefunden – desw e gen!“
    „Von dir?“
    „Was du immer fragst! Ja, von mir. Ein paar von den Steinen …“
    „Oh, wie großzügig!“
     
    Pierre stand im Türrahmen der Steuerkabine. Er blickte auf eine Lan d schaft voller Müllhalden und Sandflächen, auf zerrissenes, blutiges Land. Auf Bagger, die kreischend und rumpelnd den Tummelplatz für Gespen s ter und Albträume vorbereiteten. Atomtransporte, Wirtschaft, Fortschritt und Rationalität im Salzabbau. Alle die Wirklichkeiten in Schwere und Düsternis, in Realismus und Ideologie.
    „Lasset alle Hoffnung fahren“, deklamierte der Pfarrer am Sonntag.
    „Widerstand“, kreischte die Meute.
     
    Pierre wünschte diese Landschaft in der Sonne dösen zu sehen, wie fr ü her. Stattdessen auch noch Emil. Der war blass und unscheinbar, wie i m mer. Emil ging auf die Vierzig zu und sah aus wie siebzig. Hatte Marie geschlagen und vergewaltigt, das konnte er noch; ihr das Kind wegg e nommen, auch das, abgetrieben. Sie zu Gelegenheitsjobs gezwungen. Auch an einem Tag, an dem sie sich die Haare dunkelblond färben ließ und ihr Leben ändern wollte.
    Emil und Marie in ihrer Stammkneipe, er in hölzernen Arbeitslatschen, Winter wie Sommer. Sie mit Mantel und Hut, Frühling und Herbst … Sie wollte trinken und ihre Ruhe. Früher hatte sie gedacht, sie würden eina n der Glück bringen. Emil war immer betrunken, ohne Arbeit. Freunde hatte er nicht. Er hatte sie, Marie. Ihr die Ersparnisse abgenommen, ihre Kleider zerschnitten, ihre Seele zerschlagen. Sie hatte nur noch Reste von sich selber und die von Emil verstümmelte Katze.
     
    Marie liebte die dreibeinige Katze, jetzt noch mehr als zuvor. Und übe r haupt, das Leben war gegen sie, und es gab Tage, da verließ sie das Haus nur, um Katzenfutter und Suffzeug zu kaufen. Am Tattag hatte sie satte zwei Promille, wie man später messen würde. Und der Gutachter fand bei ihr eine Identität, die sie nicht hatte. „Kriminelle Energie“, schrieb er. Was wissen schon Gutachter … Denn bei ihr war es gelebtes Leben, das ve r sunken war in Alkohol und Selbstmitleid, kein Wunder. Und nirgends richtete sie sich wirklich ein. Irrte durch die Zeit, verfuhr sich, verlief sich, versackte, versumpfte, war auf einer Seefahrt im schweren Sturm, im u n möglichen Versuch der Selbsterkundung, in Traumsequenzen,
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