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Aufgedirndlt

Aufgedirndlt

Titel: Aufgedirndlt
Autoren: Jörg Steinleitner
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den Gang in Richtung des Fensters. Bei jedem Schritt, den sie machte, sah sie erst nach links, dann nach rechts. Erst nach links, dann nach rechts. Es roch nach Staub und – Tod. Anne hustete. Von Tom Garner keine Spur. Als Anne ganz vorn am Fenster war, entspannte sich ihr Körper. Sie warf einen kurzen Blick durch das schmutzige Glas und erblickte einen handtuchgroßen Garten. Dann drehte sie sich um, rief: »Alles in Ordnung Sepp, der ist hier nicht« und schritt zur Dachbodentür zurück.
    Sie hatte sich geirrt.
    Auf halbem Weg rumpelte es plötzlich rechts hinter ihr, und ehe Anne sich umdrehen konnte, spürte sie, wie sich etwas um ihren Hals legte und ihr die Luft raubte. Anne ächzte. Ihr wurde schwindelig. Sie spürte starken Druck auf den Augen.
    Aber sie spürte auch Hass. Es war derselbe Hass, den sie bis heute gegenüber dem Mann empfand, der ihren Vater – er war ein angesehener Richter gewesen – im Gerichtssaal erschossen hatte. Damals war Anne zwölf gewesen. Es war derselbe Hass, den sie gegenüber dem Lehrer verspürt hatte, der sie, als sie sechzehn war, dazu überredet hatte, mit ihm Sex zu haben. Ein klarer Fall von Nötigung, eine Schande.
    Die Schlinge – es musste ein Strick sein – schnitt sich tief in die Haut an Annes Hals. Sie wusste, dass es nur noch Sekunden dauern würde, bis sie das Bewusstsein verlor. Sie erahnte bereits den Frieden, der dort auf sie wartete, und war kurz davor, sich dem lockenden Sog hinzugeben.
    Stopp! Plötzlich hatte sie wieder das Bild vor Augen, wie ihr Vater, getroffen von der Kugel seines Mörders, ächzend vom Stuhl sackte. Durch den Hass auf alles Böse in der Welt, der sogleich wieder in ihr aufstieg, konnte sie neue Kräfte mobilisieren. Blitzartig und mit letzter Kraft ging Anne in die Knie, beugte ruckartig den Kopf nach vorn und schleuderte den Angreifer über ihren Kopf hinweg.
    Augenblicke später spürte sie, dass wieder Luft durch ihre Kehle drang. Sie war zurück im Leben. Und ehe der Angreifer in der Lage war aufzustehen, sprang sie ihm mit den Knien auf den Brustkorb, dass es krachte. Sollen deine Rippen ruhig brechen, du Sau!, dachte Anne. Oder hatte sie es sogar gezischt? Mit ihren Händen umfasste sie seinen Hals, drückte wie von Sinnen mit beiden Daumen auf den Kehlkopf – und dann war Ruhe. Stille. Nichts.
    Schnaufend und mit Entsetzen in den Augen starrte Anne auf den am Boden liegenden Kerl. Als wäre er kilometerweit weg, hörte sie Kastner rufen: »Anne! Anne, alles okay bei dir?«
    Anne war unfähig zu antworten. Mit beiden Händen klatschte sie dem leblosen Tom Garner auf die Wangen.
    »Hey«, fauchte sie ihn an. »Hey, hey, hey, aufwachen! Wach auf, du Sack! Was ist mit dir?«
    Doch der Student rührte sich nicht.
    »Anne!«, rief jetzt Kastner erneut von unten. Dann hörte die Polizistin, wie er die Treppe heraufgeeilt kam, und plötzlich stand er, die Dienstwaffe im Anschlag, im Türrahmen. Weil es im Flur heller war als auf dem Dachboden, sah Anne nur die schwarze Silhouette seines Körpers.
    »Alles okay?«, erkundigte sich ihr Kollege. Anne zuckte mit den Schultern. Kastner fragte: »Was ist mit ihm?«
    »Ich weiß nicht«, Anne stockte, »ich weiß nicht, vielleicht ist er tot. Ich habe … ich bin … vielleicht bin ich …« Kastner kniete sich neben sie und den leblos daliegenden Studenten und starrte sie an. »… ausgerastet«, vollendete Anne ihren Satz.
    »Ausgerastet?«, fragte Kastner ungläubig. »Ist er wirklich tot? Hast du … ihn …?«
    »Die Sau hat mich von hinten angesprungen, der hat mich fast erwürgt.« Anne klang hilflos.
    »Warte mal … Geh weg.« Kastner schob Anne beiseite und versuchte, Tom Garner wiederzubeleben. Während er Garners Brustkorb mit einer Herzdruckmassage bearbeitete, ächzte er: »Ruf die anderen, einen Arzt. Schnell, Anne!«
    Keiner machte ihr einen Vorwurf dafür, wie sie mit dem Studenten Tom Garner verfahren war. Doch allein die Tatsache, dass Sebastian Schönwetter sie sofort nach dem Vorfall für unbegrenzte Zeit in Sonderurlaub geschickt hatte, sagte ihr, dass auch den anderen nicht entgangen war, dass ihr die Sache entglitten war.
    Das Schlimmste aber war ihre innere Stimme, die sie in den vielen freien Stunden, die sie ja nun aufgrund der Dienstbefreiung hatte, mit der Frage traktierte, wie es ihr hatte passieren können, dass sie derart die Kontrolle über sich verlor. War sie ein »Psycho«? Dann war da noch diese andere Stimme in ihr, die sie darauf hinwies, dass
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