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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman
Autoren: Ulla Hahn
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mich auf die Lichtung gezwungen hatten, genauso gestorben war wie für mich, hatte ich nichts zu schaffen.
    Aber freundlich sein wollte ich doch, und so dankte ich Kreuzkamp noch einmal für seine Hilfe bei der Zimmersuche.
    Der Pastor schwieg. Seine derben Schuhe schienen noch energischer vorwärtszustapfen. Die Schafe hatten sich erhoben, ihre grauen Rücken schoben sich wie eine wollige Decke über das grüne Gras; unverrückt auf seinen Stock gestützt stand der Schäfer da, zu seinen Füßen der schwarze Hund.
    »Ja«, Kreuzkamp wandte mir sein Gesicht zu, doch er sah mich nicht an, ließ wie ich seinen Blick über Schafe, Weiden und Wasser schweifen: »Ja, der schwarze Fritz.«
    Das war gemein! Mich an die Zeit meiner rückhaltlosen Kindergläubigkeit zu erinnern, mein vorbehaltloses Vertrauen in die Allmacht Gottes, die schwarze Negerpuppen weiß machen konnte, war nicht fair. Wie hatte ich, dem Rat der Großmutter folgend, für diese Umfärbung zu Gott gefleht, gebetet Tag und Nacht. Und dann Kreuzkamp mit seinen erlösenden Worten, als die hämische Kirchengemeinde vor dem Krippchen stand. Dem Krippchen mit meinem schwarzen Fritz in Christkindchens Armen. »Glaubst du wirklich, der liebe Gott hätte die Schwarzen schwarz gemacht, wenn er sie lieber weiß gehabt hätte?!« Ja, Kreuzkamp hatte die Worte gekannt, Zauberworte beinah, jedenfalls hatten dieser Satz und das, was er dann noch zu den Eltern sagte, mich vor Strafe bewahrt. »Phantasie«, hatte er den Eltern erklärt, ein Wort, das ich nicht verstand, damals, aber es
hatte sich mir eingebrannt. Zauberwort. Erlösungswort. Phantasie, Phantasie, hatte ich auf dem Nachhauseweg vor mich hin gemurmelt, bis die drei Silben sich mir eingeprägt hatten und ich sie bei mir tragen konnte wie ein Amulett. »Dä Pastur hat jesacht, isch hab Phantasie«, mein Kampfruf. »Phantasie!«, schrie ich mal triumphierend, mal aufsässig, oft verzweifelt, wenn ich zu Hause dat dolle Döppe war oder Strafen zu entgehen suchte. Bei Mutter und Großmutter tat der Verweis auf den Stellvertreter Gottes oft seine Wirkung. Doch der Vater - »Los dä kalle!« - griff ungerührt nach dem Stöckchen hinter der Uhr. Phantasie konnte nützlich, aber auch gefährlich sein. Verlässlich vor Übel schützte sie, sobald Dritte im Spiel waren, nicht.
    Kreuzkamp machte eine heftige Bewegung mit der Hand vorm Gesicht und warf den Kopf nach hinten, wedelte einen Mückenschwarm auseinander, der auf meine Seite einschwenkte, so, dass ich nun meinerseits zu fuchteln anfing. Gar nicht mehr aufhörte, mit den Armen in der Luft zu rudern, als könnte ich die lästigen Fragen wie Mücken verscheuchen.
    »Der schwarze Fritz«, wiederholte Kreuzkamp hartnäckig, dann, in einem Tonfall, als handle es sich um einen wichtigen Menschen, erkundigte er sich: »Lebt der noch?«
    Ja, hätte ich am liebsten geschrien. Der ja. Der lebt noch in einer Kiste auf dem Speicher, zusammen mit Rilke und Mörike, Eichendorff, Novalis und Uhland. Zusammen mit allen, die mich wieder lebendig machen könnten. Angst hab ich vor all den schönen, großen, hehren Worten. Vor der Sprache Gottes und der Poesie. Ich will nur noch wissen. Wissenschaft. Fakten statt Phantasie. Das Fritzchen lebt. Ich, ich bin tot. Gestorben in der Nacht auf der Lichtung. Nach dem Fest der katholischen Landjugend. Seit einem Jahr. Tot.
    Doch ich tat ein letztes Mal so, als wischte ich Mücken beiseite, und sagte, wie ich hoffte, freundlich und zuvorkommend: »Ja, die Puppe ist noch da. Glaub ich. Auf dem Speicher.«
    Kreuzkamp seufzte. Schwieg. Ich wusste, er wusste, dass ich ihn absichtlich missverstanden hatte. Mit Fritzchen hatte
ich auch Phantasie und Gottvertrauen auf den Speicher gepackt.
    »Da liegt er ja gut«, sagte Kreuzkamp schließlich. »Nicht ganz so gut wie im Krippchen, aber da kann ihm nichts passieren. Nur - erleben kann er da auch nicht viel. Vielleicht braucht er Ruhe. Hauptsache: Er lebt. Jesus ist ja auch auferstanden von den Toten. Warum nicht auch der schwarze Fritz?«
    Es war eine kühne Kombination aus Jesus und Negerpuppe, die er mir in diesem Gleichnis anbot, und ich wusste, wen er meinte, wenn er von Fritzchen sprach. Er gab mich nicht verloren. Glaubte an mich, ohne mich ins Gebet zu nehmen. Kreuzkamp machte es mir leicht. Wie dankbar war ich ihm, dass er mir meine Ruhe ließ. Meine Kapsel. Die grellen Augen des Löwenzahns sahen mich allwissend an.
    »Ja, das glaube ich auch«, sagte ich und versuchte, meine Stimme
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