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Aufbruch - Roman

Aufbruch - Roman

Titel: Aufbruch - Roman
Autoren: Ulla Hahn
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Goldruten? Gott lag rot im grünen Gras!
    Ich sprang auf. Lief ein paar Schritte, kam zurück. Blieb vor Kreuzkamp stehen: »Ja, die gute alte Zeit! Der liebe Gott! Vielleicht glaubte Eichendorff ja noch daran, aber schon bei ihm ist das nicht mehr so sicher. Eher so, als ›wüchse ihm langsam ein Haarbeutel im Nacken‹, wie er schreibt. Ruinen, wohin man sieht. Alles gestern schon von gestern! Wo war er denn, der liebe Gott, als …« Ein Schluckauf, gewaltig, wie seit langem nicht, warf mich Kreuzkamp fast in die Arme, die er unwillkürlich nach mir ausstreckte. Ich zuckte zurück.

    Kreuzkamp schwieg. Umständlich bohrte er die Spitze seines rechten Schuhs in den trockenen Boden, lockerte einen Stein und trat ihn wieder fest. »Als?«, fragte er dann.
    »Als die Juden ins Gas geschickt wurden.«
    Ich wischte mir die Augen. Der Schluckauf war weg. Ich wieder in Sicherheit. Der Sicherheit fremder Schicksale. Fremden Leidens. Kreuzkamp würde keine Antwort wissen. Was er sagen würde, war mir egal. Wenn nicht schon lange vorher, war Gott auf der Lichtung gestorben. Genauso wie die Poesie. Gestorben und nicht wieder auferstanden. Jedenfalls bis jetzt nicht. Und ich würde es zu verhindern wissen. Gott so tot wie die Dichtung. Über Ihn reden konnte ich, mit Ihm nicht.
    Kreuzkamp tat mir leid. Es war nicht recht von mir gewesen, unserem Gespräch mit dieser Frage eine Wendung zu geben, die nur als Kampfansage aufgefasst werden konnte. Das Leid, das Verbrechen, so unvorstellbar wie Gott selbst.
    Warum Gott die Leidenden brauche, hatte ich in der Schule gefragt, als der Krebs den Großvater aus dem Leben fraß, und der Kaplan hatte erwidert: »Damit er sie erlösen kann.« Erlösen? In den Tod? Die Vergasung? Was in Auschwitz geschah, konnte ich so wenig begreifen wie hier auf der Bank neben Kreuzkamp, Gott.
    Während ich meinen Gedanken nachhing, hatte Kreuzkamp zu reden begonnen, leise, wie vor sich hin, ich fing nur einzelne Wörter auf. Betroffen, Scham, Verantwortung, dann lauter: »Hast du verstanden, Hildegard? Ich weiß es nicht. Mein ist die Rache, spricht der Herr. Der Prozess war wichtig. Es wird, es muss mehr Prozesse geben. Das ist wichtig. Aber nicht genug. Bedauern für die Opfer, Verachtung für die Täter, harte Strafen: nicht genug. Ihr, die Jungen, müsst alles tun, dass so etwas nie wieder geschieht. Nirgends auf der Welt. Das ist ja schon fast eine Floskel. Trotzdem wahr.«
    Ich sah Kreuzkamp von der Seite an. Sein weißes Haar von Sonnenlicht durchstrahlt, das sich an seiner Stirn, seiner Nase, auf seinen Lippen brach.

    »Was zu tun ist, das müsst ihr, die Jungen, tun. Auschwitz wird nicht vergeben, nie vergessen. Aber gerechtere Generationen können unsere Schuld abtragen. Jeder an seiner Stelle.«

Kreuzkamp zögerte einen Augenblick und sprach dann weiter, leise, fast zu sich selbst, doch diesmal hörte ich genau hin.
    »Warum Gott das Böse geschehen lässt in der Welt, fragst du. Nicht nur in Auschwitz. Stell dir vor, du findest ein Buch, kostbar gedruckt und gebunden. Du schlägst es auf, aber du verstehst nur wenige Sätze, erkennst nur hier und da, was die Bilder zeigen. Seiten fehlen. Wörter sind durchgestrichen, ganze Abschnitte, Kapitel sind in fremder Sprache gedruckt, in fremden Zeichen. Was du verstehst, sind nur Bruchstücke des Ganzen. Du kannst die Bruchstücke zu einem Ganzen verbinden, kannst versuchen, einen Sinn zu finden, in dem, was sich dir erschließt, kannst Zusammenhang stiften. Immer nur den deinen. Einen Zusammenhang der Bruchstücke. Was du verstehst, auch wenn du meinst, das Ganze verstanden zu haben, ist immer nur ein Teil des Ganzen. Das ganze Buch versteht nur, der es schrieb. Sein Schöpfer. Dennoch: Immer mehr zu verstehen von Seinem Buch, so zu leben, dass Sein Wille geschehe, dazu sind wir auf Erden.«
    Kreuzkamp stand auf, trat ein paarmal auf der Stelle. »Eingeschlafen«, versuchte er zu scherzen, »wie die Deutschen’33. Wie sind wir nur von Eichendorff auf Auschwitz gekommen? Kann man denn heutzutage kein Gespräch mehr führen, ohne in dieser unglückseligen Zeit zu landen? Ach, Hildegard, sei froh, dass du diese Jahre nur vom Hörensagen kennst.«
    Weit draußen tuckerte ein Kutter rheinaufwärts. Kreuzkamp hob den Kopf, schien dem gleichmäßigen Motorengeräusch nachzulauschen und fuhr sich mit beiden Händen durchs Haar über den hellen flachen Schläfen. Unverwüstlich sah er aus, der alte Pastor, unverwüstlich wie das Buch, auf das er seinen
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