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Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen

Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen

Titel: Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen
Autoren: Lydia Benecke
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wollen, und erfinden die Figuren, die sie spielen, ganz bewusst. Es ist ähnlich wie bei Menschen, die in ihrer Freizeit an Live-Rollenspielen teilnehmen: Sie ziehen sich ein Kostüm an, geben sich einen anderen Namen, erfinden, was für eine Figur – oft auch ein Phantasiewesen – sie sind und welche Lebensgeschichte, Eigenschaften und Fähigkeiten diese Figur hat. Dann spielen sie diese Rolle einige Tage lang innerhalb einer Gruppe von Mitspielern. Während dieser Zeit denken, sprechen und verhalten sie sich als die Figur, die sie darstellen. Ist das Rollenspiel vorbei, sind sie wieder sie selbst.
    Für Psychopathen ist das ganze Leben ein solches Spiel. Sie haben verschiedene »Spielcharaktere«, die je nach Situation und Lebenslage, mal für länger, mal nur kurz die Handlung übernehmen. Das erklärt auch, warum »Wahrheit« für einen Psychopathen etwas völlig anderes ist als für alle anderen Menschen. Wahr ist für den Psychopathen das, was er in diesem Augenblick – je nach Rolle und Situation – als wahr empfindet. Um es mit einem »normalen« Live-Rollenspieler zu vergleichen: Würde man diesen beispielsweise mitten im Spiel fragen, ob er tatsächlich der Magier Nemo aus dem Land Nusquam ist, der andere mit Flüchen belegen kann, so würde er dies bejahen. In dieser Situation spielt er gerade Nemo, und für Nemo ist dies die Wahrheit.
    Rodney spielte drei Jahre lang die meiste Zeit über die Figur »John Berger«. John Berger, ein jüdischer Kunststudent, Fotograf und Schauspiellehrer, der sich auch fürs Filmemachen und für Philosophie interessiert und ein sexuell freizügiges Leben im New Yorker Künstlerviertel führt. In dieser Rolle hatte er mit seiner Vergangenheit als Rod Alcala, Sohn mexikanischer Einwanderer aus einer kaputten Familie, der zurückgezogen in Hollywood lebt und heimlich Fotos kleiner Mädchen sammelt, nicht mehr viel zu tun. Seine sexuelle Zielphantasie, brutal zu vergewaltigen und zu töten, blieb zwar gleich. Ebenso sein großes Interesse für Kunst. Doch John Berger war besser, selbstsicherer, erfolgreicher als der alte Rod Alcala. Daher hat Rodney keine große Lust, sich mit dieser »Figur« aus seiner Vergangenheit näher zu beschäftigen.
    Es ist für ihn sehr unangenehm, sich nun doch in Los Angeles vor den Justizbehörden für sein Verbrechen an Tali Shapiro verantworten zu müssen. In dieser Situation interessiert ihn nur, wie er sich mit möglichst wenig Schaden aus der Affäre ziehen kann. Dabei kommt ihm ein Zufall sehr gelegen: Die Staatsanwaltschaft will ihn wegen Entführung und Vergewaltigung der damals achtjährigen Tali anklagen. Aus juristischen Gründen wird in diesem Fall von vornherein ausgeschlossen, dass man ihn zusätzlich wegen versuchten Mordes belangen kann. Doch auch die geplante Anklage steht auf wackligen Beinen, da Talis Familie bereits vor drei Jahren das Land verlassen hat. Und die Eltern wollen ihrer Tochter nicht zumuten, im Prozess auszusagen. Damit fehlt die Aussage der wichtigsten Zeugin.
    Dies bringt die Staatsanwaltschaft in die unangenehme Situation, Rodney einen juristischen Deal anbieten zu müssen, um überhaupt sicherzugehen, dass er verurteilt wird. Rodney erkennt sofort, dass dies die bestmögliche Lösung für ihn ist. Er handelt aus, dass er nicht wegen Entführung und Vergewaltigung, sondern nur wegen sexuellem Kindesmissbrauch angeklagt wird. 1972 bekennt Rodney sich dieses Deliktes schuldig – wie mit der Staatsanwaltschaft ausgehandelt. Dafür wird bei ihm das damals in Kalifornien noch geltende Gesetz der »unbestimmten Strafzumessung« angewendet. Das bedeutet, die Bewährungskommission und nicht der Richter entscheidet, wie lange er tatsächlich in Haft bleibt. Aufgrund dieses Gesetzes wird er wegen Kindesmissbrauchs zu einer Haftzeit zwischen einem und zehn Jahren verurteilt.
    Im Gefängnis benimmt sich Rodney vorbildlich. Er spielt perfekt die Rolle des freundlichen, einsichtigen und reumütigen Täters, dessen Verbrechen ein einmaliger, schwerer Fehler war. Da er intelligenter, gebildeter und charmanter ist als die meisten seiner Mithäftlinge, ist es für ihn leicht, dem Gefängnispersonal positiv aufzufallen. Der Gefängnispsychiater fällt auf das perfekte Schauspiel herein und glaubt, dass Rodney tatsächlich große Fortschritte macht. Nach fast drei Jahren Haft bescheinigt der Psychiater, dass er Rodney nicht mehr für gefährlich hält. Die Bewährungskommission entscheidet daraufhin im August 1974, dass Rodney
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