Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen

Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen

Titel: Auf duennem Eis - die Psychologie des Boesen
Autoren: Lydia Benecke
Vom Netzwerk:
– er ist inzwischen achtundzwanzig Jahre alt – bricht seine Lust zu töten wieder durch. Wahrscheinlich begegnet er der Stewardess Cornelia Michel Crilley, als sie gerade dabei ist, Möbel in ihr neues Apartment in Manhattan zu tragen. Der attraktiven 23-Jährigen Hilfe anzubieten, ist eine allzu einladende Möglichkeit, um schnell und unauffällig mit ihr in die neue Wohnung zu kommen. Cornelia ist neu in dem Haus, den Nachbarn wird also nicht auffallen, dass sie mit einem völlig Fremden ihre Möbel hineinträgt. Außerdem ist dieser Wohnblock dafür bekannt, dass alleinstehende Stewardessen und Sekretärinnen häufig ein- und ausziehen. Das Möbelschleppen zieht also sicherlich keine besondere Aufmerksamkeit auf sich. Das sind die perfekten Rahmenbedingungen für Rodney, um seine ultimative sexuelle Phantasie endlich auszuleben. Sobald er mit ihr in der Wohnung ist, vergewaltigt er Cornelia und stranguliert sie mit ihren Nylonstrümpfen. Unbemerkt verlässt er die Wohnung. Der Mord bleibt für die nächsten vierzig Jahre unaufgeklärt.
    Zwei Monate später unterrichtet Rodney wie auch in den letzten Sommern die Mädchen im »Kunst- und Schauspiel-Sommerlager«. Zwei der Teilnehmerinnen werden während eines Spaziergangs von einem plötzlichen Sommergewitter überrascht und suchen Schutz im Postamt der Kleinstadt George Mills. Um sich die Zeit zu vertreiben, schauen sie sich das FBI-Plakat mit den zehn meistgesuchten Verbrechern der USA an. Was sie sehen, verschlägt ihnen den Atem: Ihr Kunst- und Schauspiellehrer John Berger sieht genauso aus wie der flüchtige Sexualstraftäter Rodney Alcala. Sie berichten davon dem Leiter des Sommerlagers. Dieser hat nach einem Blick auf das Foto keinen Zweifel daran, dass sein Mitarbeiter John Berger der flüchtige Sexualstraftäter ist, und informiert sofort das FBI.
    Rodney wird von FBI-Agenten noch im Sommerlager festgenommen. Seine Fingerabdrücke beweisen, dass es sich um keinen Irrtum handelt. Er wird nach Los Angeles gebracht und wegen des Verbrechens an Tali Shapiro angeklagt. Polizeikommissar Steve Hodel hat in Los Angeles drei Jahre auf diesen Tag gewartet. Er war es, der das FBI um Hilfe in dem Fall gebeten hatte. Hodel spricht mit Rodney, als dieser in Untersuchungshaft sitzt. »Erzählen Sie mir von dem Vorfall mit Tali Shapiro«, fordert er Rodney auf. Dessen Antwort erstaunt den erfahrenen Polizeibeamten: »Oh, ich will alles, was damit zu tun hat, vergessen. Ich will nicht über Dinge sprechen, die Rod Alcala getan hat.« Der Polizeibeamte begreift nicht, wie dieser Mann über sich selbst sprechen kann, als sei er eine andere Person.
    Doch in Rodneys Kopf ist dies kein Widerspruch. Was er gerade tut, hat er schon sein ganzes Leben lang getan: verschiedene Figuren darstellen, indem er sich unterschiedliche Masken aufsetzt. Es ist kein Zufall, dass er sich für Schauspiel interessiert und darin sogar Kurse gibt. Die verschiedenen Rollen, die er im Laufe seines Lebens entwickelt, nutzt er, um nicht aufzufallen oder um andere für sich zu gewinnen. Sein ganzes Leben wird eine Aneinanderreihung dieser Rollen, die er bis zur Perfektion einstudiert hat. Er kann sie schneller wechseln als andere Menschen ihre Kleidung. All diese Rollen verbergen sein tiefstes Inneres – es würde jeden normalen Menschen zu Tode erschrecken.
    Normale Erwachsene haben ganz selbstverständlich eine konkrete Vorstellung davon, wer sie sind, was ihre Persönlichkeit ausmacht. Sie wissen, welche Eigenschaften sie haben, welche Werte sie vor sich selbst vertreten, welche Menschen ihnen etwas bedeuten, was sie in ihrer Vergangenheit geprägt hat und welchen Weg sie in Zukunft gehen wollen. Psychopathen ändern ihre Meinungen und die Wertvorstellungen, die sie nach außen vertreten, sie tauschen die Menschen aus, die in ihrem Leben vorkommen, ihre Zukunftspläne, oft auch die Geschichten über ihre Vergangenheit – und das immer wieder. Deshalb benutzen viele von ihnen im Laufe ihres Lebens auch unterschiedliche Namen. Je nach dem, was ihnen in einer bestimmten Situation oder Lebensphase nützt, stellen sie eine komplette Figur dar. Diese muss mit der Figur, die sie zwei Stunden später an einem anderen Ort spielen, nicht das Geringste zu tun haben.
    Sie haben allerdings keine »gespaltene Persönlichkeit«, bei der die Betroffenen Erinnerungslücken haben und selbst nicht wissen, woher ihre unterschiedlichen »Persönlichkeiten« kommen. Psychopathen erinnern sich an alles, wenn sie es
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher