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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick
Autoren: Jodi Picoult
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brauchst dir keine Sorgen zu machen«, antwortete er einfach. »Ich werde dich nie gehen lassen.«
     
    Wie die anderen sieben Frauen in der Therapiegruppe war Cassie mit einem Mann verheiratet, der zu fünfundneunzig Prozent der Zeit ein wunderbarer Mensch war. Wie die anderen Frauen hatte Cassie als Kind mehr Zeit damit verbracht, sich um ihre Eltern zu kümmern, als ihre Eltern sich um sie gekümmert hatten, und niemand hatte ihr das je gedankt. Und dann war ihr Mann aufgetaucht. Er war der erste Mensch, der ihr das Gefühl gab, etwas Besonderes zu sein. Er sagte ihr, daß er sie liebe, er weinte, wenn er ihr weh tat. Er erklärte ihr, daß sie ihn umsorgen und seinen Schmerz lindern könne wie niemand sonst.
    Wie die anderen sieben Frauen wollte auch Cassie nicht, daß Alex sie schlug, und wußte doch, daß sie es nicht verhindern konnte. Sie glaubte, daß es irgendwie ihre Schuld war, wenn sie die Schläge nicht vermeiden konnte. Er tat ihr leid. Sie konnte sich einreden, daß es nie wieder vorkommen würde, weil sie in ihrem Leben so viel Zeit damit verbracht hatte, Probleme zu lösen, daß sie inzwischen um ihrer eigenen Gesundheit willen an ihre Fähigkeit glauben mußte, alles in Ordnung bringen zu können.
    Und ja, ihre Bemühungen wurden belohnt. Mit Blumen, Zärtlichkeit und einem Lächeln, das ihr ganz allein galt. Wenn sie alles richtig machte - wenn sie ihn nicht zur Raserei trieb -, war ihr Leben schöner, als man es sich vorstellen konnte.
    Aber wie die anderen sieben Frauen begriff auch Cassie, daß es nicht normal war, vor Schreck zu erstarren, sobald ihr Mann ihr die Hand auf die Schulter legte, weil sie nicht wußte, ob sie einen Kuß oder einen Tritt in die Rippen erwarten sollte. Sie begriff, daß es nicht immer ihre Schuld war. Daß sie nicht öfter unglücklich als glücklich zu sein brauchte.
    Dr. Pooley saß mit im Kreis der Frauen, von denen zu Cassies Überraschung viele gut gekleidet und offensichtlich gebildet waren. Irgendwie hatte sie erwartet, unter den Frauen von Lastwagenfahrern oder Sozialhilfeempfängern zu sitzen. Die ersten paar Minuten saß sie schweigend dabei, nachdem sie sich mit ihrem Vornamen vorgestellt hatte, und starrte auf den tulpenförmigen Bluterguß am Schlüsselbein der Frau ihr gegenüber.
    An jenem Abend wurden Geschichten ausgetauscht. Dr. Pooley wollte, daß sich jede daran erinnerte, wann es erstmals zu einer Mißhandlung gekommen war. Cassie hörte eine Rechtsanwältin erzählen, wie ihr Lebensgefährte sie achtundvierzig Stunden im Bad eingesperrt hatte, weil er nicht wollte, daß sie mit ein paar Kollegen ausging. Eine andere Frau beschrieb weinend, wie ihr Mann sie von einer Party nach Hause geschleift und ihr an den Kopf geworfen hatte, sie habe zuviel mit einem Nachbarn geredet. Danach hatte er sie ins Gesicht geschlagen, bis sie zwei Zähne verlor und Blut aus ihrem Mund sprudelte und sie überhaupt nicht mehr reden konnte. Andere erzählten, wie sie mit Gegenständen beworfen, wie ihnen Knochen gebrochen wurden, wie Fäuste Glasscheiben durchschlagen hatten.
    Schließlich blieb nur noch Cassie übrig. Sie sah scheu zu Dr. Pooley hinüber und begann zu erzählen, wie sie nach ihrer Vorlesung über ihre Hand aus Chicago zurückgekommen war. Stockend berichtete sie von dem verspäteten Flugzeug, von Alex’ Beschuldigungen, wo sie gesteckt habe, immer darauf achtend, daß sie nichts verriet, was auf seinen Beruf schließen ließ oder seine Identität offenbarte. Mit jedem Wort fühlte sie sich leichter, so als habe sie jahrelang Steine in ihrem Herzen herumgetragen und könne sie nun endlich abladen. Als sie verstummte - nachdem sie das Baby erwähnt hatte, das sonst vielleicht geboren worden wäre –, liefen ihr die Tränen über die Wangen, und Dr. Pooley hielt sie im Arm.
    Entsetzt, weil sie sich so hatte gehenlassen, setzte Cassie sich kerzengerade auf. Hastig wischte sie sich das Gesicht trocken. »Inzwischen habe ich einen Sohn«, verkündete sie stolz. »Mein Mann liebt ihn über alles.« Und dann, leiser, sprach sie Alex frei: »Damals hat er nichts davon gewußt.«
    Als sich die Gruppe auflöste und die Frauen ihre Handtaschen und ihre neuen, zerbrechlichen Einsichten zusammensuchten, um sie mit nach Hause zu nehmen, begann Cassie absichtlich zu trödeln. Sie wartete, bis nur noch Dr. Pooley und sie im Zimmer waren, dann tippte sie ihr leicht auf die Schulter. »Danke«, meinte Cassie und zuckte leicht mit den Achseln. »Ich weiß nicht genau
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