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Auf den zweiten Blick

Auf den zweiten Blick

Titel: Auf den zweiten Blick
Autoren: Jodi Picoult
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ganzen drei Stunden über kleiner Flamme rösten. Sie hat mich doch tatsächlich gefragt, ob es mir auf Pine Ridge ähnlich erging wie der weißen Frau in Der mit dem Wolf tanzt«.
    Alex lachte. »Und was hast du geantwortet?«
    »Keine Büffel, mehr Schnee, längst nicht so hübsche Kostüme.«
    Sie schüttelte den Kopf, spazierte durch das Wohnzimmer davon und wich gerade noch einem Dienstmädchen aus, das einen Stapel Tischtücher trug. An der Haustür drehte sie sich noch einmal um, biß sich auf die Lippe und schaute nach, ob auch niemand im Flur war. »Das mit heute abend hast du nicht vergessen?«
    Wie so oft in diesen Tagen sah Alex sie an, als könne er nicht recht glauben, daß sie da war und daß sie tatsächlich in drei Stunden zurückkommen würde, wenn sie durch diese Tür hinausging. »Ich habe es nicht vergessen«, antwortete er.
    Dr. June Pooley hatte als einzige von all den Therapeuten, mit denen Cassie gesprochen hatte, nicht darauf bestanden, daß eine geschlagene Frau ihr Leben nur ändern könne, wenn sie außerhalb der Reichweite ihres Mannes blieb. Sie erzählte Cassie von einem Geschlagene-Frauen-Syndrom und meinte, es handle sich dabei um eine Krankheit ähnlich dem Alkoholismus. Und wie beim Alkoholismus könnten durch bestimmte Therapien sowohl Opfer als auch Täter lernen, ihre Probleme besser zu verstehen und anders damit umzugehen.
    »Ein Alkoholiker muß begreifen, daß er nie wieder trinken darf. Nicht auf der Hochzeit seines Bruders, nicht bei einem Geschäftsessen, nie. Wenn man geschlagen wird«, fuhr Dr. Pooley fort, wobei sie erst Cassie, dann Alex anschaute, »oder wenn man schlägt, muß man begreifen, daß die Impulse, die einen in diese Situationen führen, anderweitig kanalisiert werden müssen, wenn man mit dem Partner zusammenbleiben will.«
    Alex ergriff Cassies Hand und drückte sie.
    Dr. Pooley atmete tief durch. »Sie sollten sich vor Augen halten, daß Sie nur eine kleine Chance haben. Aber selbst wenn Sie sich scheiden lassen sollten, steht so gut wie fest, daß Alex ohne Therapie wieder eine Frau mit Cassies Persönlichkeitsstruktur finden und seinen Zorn an ihr auslassen würde, während Cassie nach einem Mann wie Alex suchen würde, der sie von neuem mißhandelt. Ganz gleich, was passiert, Sie machen einen Schritt in die richtige Richtung. Der erste Teil der Therapie besteht für Sie beide darin, andere Menschen kennenzulernen, die in der gleichen Situation sind wie Sie.«
    Cassie schaute kurz zu Alex, der mit ruhigem, klarem Blick auf die Therapeutin sah, die ihr Leben verändern würde. Er schien kein bißchen nervös - nicht, als er in dieses ruhige, eichengetäfelte Büro gekommen war, und jetzt nicht einmal angesichts der Perspektive, vor einer Gruppe fremder Männer zugeben zu müssen, daß er Cassie geschlagen hatte. Cassie runzelte die Stirn, malte sich die Situation für ihn aus. Natürlich gab es die ärztliche Schweigepflicht, aber sie war nicht sicher, ob sie sich auch auf die Mitglieder einer Selbsthilfegruppe erstreckte. Und natürlich wäre das für Alex Bedingung.
    »Man sieht, daß Sie zueinander halten, und das weiß ich zu schätzen«, meinte Dr. Pooley. Sie warf einen Blick auf ein Klemmbrett und sah dann Cassie an. »Ich kann Sie in die Frauengruppe am Mittwochabend nehmen«, sagte sie. »Und unsere Männergruppe trifft sich sonntags.«
    »Das ist kein Problem«, antwortete Alex.
    »Ich mag sie«, sagte Cassie, als sie ins Bett stiegen. »Und du?«
    Alex gähnte und schaltete das Licht aus. » Sie ist okay«, antwortete er.
    »Sie hat jedenfalls keinen Salto geschlagen, als du zur Tür reinkamst«, bemerkte Cassie. »Und sie hat dich nicht um ein Autogramm gebeten.«
    Alex kuschelte sich an ihre Schulter. »Weil sie es sowieso dutzendfach bekommt. Auf jedem Scheck.«
    Im Dunklen drehte sich Cassie zu Alex um und legte ihre Handflächen auf seine Brust. »Es macht dir nichts aus, vor Fremden über uns zu reden?«
    Alex schüttelte den Kopf und nahm Cassies Brust in den Mund. Er konnte die schwache Milchspur schmecken, die sein Sohn hinterlassen hatte, und begann zärtlich zu nuckeln. Ihm gefiel der Gedanke, daß Cassie sie beide ernähren könnte.
    »Was ist mit dem, was sie außerdem gesagt hat?« flüsterte Cassie. Alex hörte die rauhe Angst in ihrer Stimme und löste sich von ihr. »Was ist, wenn wir zur Mehrheit gehören und nicht zusammenbleiben können?«
    Alex schloß sie in die Arme und rieb ihr mit den Händen über den Rücken. »Du
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