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Auf dem Jakobsweg

Auf dem Jakobsweg

Titel: Auf dem Jakobsweg
Autoren: Paolo Coelho
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dem Klang der Erde, einem dumpfen, heiseren Klang, und wurde ganz allmählich zu einem Samenkorn. Ich dachte nicht mehr. Alles war dunkel, und ich schlief tief unten in der Erde. Plötzlich bewegte sich etwas. Ein Teil von mir, ein winziger Teil von mir, wollte mich wecken, mir sagen, daß ich von dort unten herauskommen solle, da es >dort oben< etwas anderes gab. Ich wollte weiterschlafen, doch dieser Teil ließ nicht locker. Er begann meine Finger zu bewegen, und meine Finger bewegten dann meine Arme. Doch es waren weder die Finger noch die Arme, es war ein Samenkorn, das darum kämpfte, die Erde zu durchbrechen und dort mach oben< zu kommen. Ich spürte, wie mein Körper begann, der Bewegung meiner Arme zu folgen. Jede Sekunde war wie eine Ewigkeit, doch das Samenkorn wollte wachsen, wollte wissen, was >dort oben< war. Unter großen Schwierigkeiten richteten sich zuerst mein Kopf und dann mein Körper auf. Alles vollzog sich für mich viel zu langsam, und ich mußte gegen die Kraft ankämpfen, die mich ins Innere der Erde zog, wo ich bislang ruhig in nicht endendem Schlaf gelegen hatte. Doch es gelang mir, und ich bezwang diese Kraft und erhob mich. Ich hatte die Erde durchbrochen und war von diesem >dort oben< umgeben.
Es war die Natur. Ich spürte die Wärme der Sonne, hörte das Summen der Insekten, das Murmeln des Baches in der Ferne. Langsam stand ich auf, hielt die Augen geschlossen DAS EXERZITIUM VOM SAMENKORN
Knie nieder. Dann setze dich auf deine Fersen und beuge dich so weit nach vorn, bis deine Stirn die Knie berührt. Strecke die Arme zurück. Du befindest dich jetzt in Fötushaltung. Schließe die Augen. Nun entspanne dich vollkommen. Atme ruhig und tief. Ganz allmählich glaubst du, ein winziges, wohlig von der Erde umschlossenes Samenkorn zu sein. Du bist von Wärme und Wohlgefühl umgeben. Du schläfst ruhig. Plötzlich erzittert ein Finger. Das Korn will nicht mehr Samenkorn sein, es will wachsen. Du beginnst ganz langsam die Arme zu bewegen, dann richtet sich dein Körper auf, bis du wieder auf den Fersen sitzt. Nun erhebst du dich etwas und verschiebst dein Gewicht ganz langsam nach vorn, bis du wieder kniest. Während du das tust, stell dir vor, du wärst ein Samenkorn, das keimt und allmählich die Erde durchbricht. Jetzt ist der Augenblick gekommen, die Erde ganz zu durchstoßen. Du erhebst dich langsam, setzt erst einen Fuß, dann den anderen auf, versuchst das Gleichgewicht zu halten, wie ein Schößling, der um seinen Raum kämpft. Wenn du ganz aufgerichtet stehst, stelle dir das Feld um dich herum vor, die Sonne, das Wasser, den Wind und die Vögel: Du bist ein Samenkorn, das wächst. Du hebst langsam die Arme zum Himmel. Dann streckst du dich immer weiter, als wolltest du die Sonne packen, die über dir leuchtet und dir Kraft spendet und dich anzieht. Dein Körper spannt sich an, die Muskeln kontrahieren, und dabei fühlst du, daß du immer größer wirst, bis du schließlich riesig bist. Die Anspannung wird immer stärker, wird schmerzhaft, unerträglich. Wenn du es nicht mehr aushältst, stoße einen Schrei aus und öffne die Augen.
    und glaubte das Gleichgewicht zu verlieren und zur Erde zurückzukehren. Dennoch wuchs ich immer weiter. Meine Arme lösten sich vom Körper, der sich immer weiter streckte. Und ich wurde wiedergeboren, wünschte mir, daß diese unendlich große, leuchtende Sonne mich durchflutete. Ich reckte meine Arme, so weit ich konnte. Alle meine Muskeln begannen zu schmerzen, und mir war so, als ragte ich tausend Meter hoch hinauf, als könnte ich die Berge umarmen. Mein Körper weitete und weitete sich, bis die Schmerzen in den Muskeln so intensiv geworden waren, daß ich es nicht mehr aushalten konnte. Da stieß ich einen Schrei aus.
    Ich öffnete die Augen und sah Petrus, der vor mir stand, eine Zigarette rauchte und mich anlächelte. Das Tageslicht war noch nicht ganz verschwunden, doch zu meiner Überraschung gab es weniger Sonne, als ich vermutet hatte. Ich fragte ihn, ob er wollte, daß ich ihm meine Gefühle beschriebe. Er verneinte es. »Das sind sehr persönliche Dinge, die solltest du für dich behalten. Wie soll ich mir ein Urteil über sie erlauben. Sie gehören dir ganz allein.«
Dann meinte er, wir sollten hier schlafen. Wir machten ein kleines Feuer, tranken den Rest Wein und aßen das Brot, das ich mit der Leberpastete bestochen hatte, die ich, noch bevor ich nach Saint-Jean gekommen war, gekauft hatte. Petrus war zum Bach gegangen, der in der Nähe
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