Auf dem Holzweg durchs Universum: Warum sich die Physik verlaufen hat (German Edition)

nicht gerade beruhigen. Ein wenig Wissen über Statistik aber schon. Obige Wahrscheinlichkeit sagt nämlich nichts darüber aus, wie verbreitet eine Krankheit ist, ein typischer Wert wäre zum Beispiel 0,02 Prozent. Wenn sich also 10 000 Leute untersuchen lassen, werden darunter im Mittel zwei Erkrankte sein und durch den Test höchstwahrscheinlich als solche erkannt. Umgekehrt werden durch den Test von 9998 Gesunden etwa zehn irrtümlich für krank gehalten. Wenn Sie sich also unter den als krank getesteten Personen befinden, sind Sie in zehn von zwölf Fällen gesund!
    Auch in der Physik ist die Diagnostik hochpräzise. Aber die Verbreitung der Krankheit [6] entspricht hier der Wahrscheinlichkeit, dass die Natur ihre Gesetze kompliziert gestaltet hat – vielleicht war die ja auch sehr gering. Doch wie sehr dürfen wir an der Ansicht festhalten, die Natur habe einfachen Regeln zu gehorchen? Immerhin waren fast alle Physiker, denen wir grundlegende Fortschritte verdanken, davon überzeugt. Würden sie heute anders denken? Zweifellos ist die Diagnose der momentan anerkannten Naturgesetze beunruhigend. Wenn wir jedoch die Gegenwart nicht so wichtig nehmen, zeigt uns die Geschichte eine Reihe von Fehlalarmen, bei denen sich die Natur zunächst heillos kompliziert dargestellt hatte, bevor man eine revolutionäre Vereinfachung fand. In diesem Sinne ist die Wissenschaftsentwicklung bis etwa 1930 ein großes Experiment, in dem komplizierte Modelle noch nie Bestand hatten. Vielleicht ist die Physik doch nicht so krank.
    In späteren Kapiteln werden wir die Qualität jener Diagnosen noch unter die Lupe nehmen. Machen Sie sich aber schon jetzt klar: Man kann nicht sinnvoll von einer bestimmten Wahrscheinlichkeit dafür sprechen, dass wir uns auf dem richtigen Weg befinden. Es hängt einfach auch davon ab, wie verbreitet eine ‚Krankheit‘ ist. Sie müssen sich daher entscheiden, welche Bedeutung Sie der Einfachheit in der Natur beimessen wollen. Die Beschäftigung mit ihren Gesetzen erfordert solche historischen und philosophischen Reflexionen. Nach wie vor ist es eine ganz reale Möglichkeit, dass die Standardmodelle der Physik nicht nur nicht perfekt sind – das werden sogar die meisten Physiker einräumen –, sondern ein kontraproduktiver Irrweg. Denken Sie daran, wenn Sie das nächste Mal einen Experten von „gesichertem Wissen“ sprechen hören.
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    Nichts setzt dem Fortgang der Wissenschaft mehr Hindernis entgegen, als wenn man zu wissen glaubt, was man noch nicht weiß – Georg Christoph Lichtenberg
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EXPERIMENT & CO. KG
    Gegen Hirngespinste wie Multiversen und Inflationen auf Branen wäre man ohne die Forderung nach empirischer Überprüfbarkeit völlig hilflos. Das Experiment ist die methodische Erfindung der Physik, die ursprünglich nur der Wunsch nach Naturerkenntnis und daher Teil der Philosophie war. Durch ihre äußerst erfolgreiche Methodik hat die Physik sich selbständig gemacht, und da die meisten Philosophen tatsächlich wenig von Physik verstehen, blickt man gelegentlich mit einem gewissen Spott auf die alte Mutterwissenschaft herab: Sie sei der systematische Missbrauch einer eigens zu diesem Zweck erfundenen Nomenklatur. Und doch, wenn man in größerem Zeitrahmen auf Grundlegendes blickt und die gegenwärtige Produktion von Fakten betrachtet, die wahrhaft industrielle Ausmaße angenommen hat, wünscht man sich gelegentlich einen philosophischen Aufsichtsrat zurück.
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    Einstein, Bohr, Heisenberg und Schrödinger … sahen dies in einer breiteren philosophischen Tradition, in der sie zu Hause waren. 6 – Lee Smolin, theoretischer Physiker
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    Die empirische Methode der Physik häuft heute mit dem gleichen Erfolg Wissen an, wie die Marktwirtschaft Güter produziert. Aber ob es nun die Flut von Konsumartikeln ist oder die Datenmenge am CERN: Was nützt uns das, welche wirklich neuen Erkenntnisse gewinnen wir dadurch? Ohne den philosophischen Anspruch, die grundlegenden Fragen nach dem Aufbau der Natur zu beantworten, degeneriert die Physik zur Beliebigkeit wie eine Zivilisation ohne Werte. Dass dabei Zweige entstehen, die ohne reale Produktion nur mehr Spekulationsblasen erzeugen, hat auch die Theoretische Physik schon an den Rand des Bankrotts geführt.
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    Tatsächlich hält sich die normale Wissenschaft die Philosophie vom Leibe, und wahrscheinlich aus gutem Grund. – Thomas Kuhn, Wissenschaftstheoretiker
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WISSENSCHAFTLICHES FAIR PLAY: NULLTOLERANZ MIT IDEOLOGIE
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