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Auf das Leben

Titel: Auf das Leben
Autoren: Walter Rothschild Oliver Weiss Mirjam Pressler
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Intensivbehandlung. Unter der Maske und mit den vielen Schläuchen und den piependen Maschinen war er nicht zu erkennen. Ich habe solche Szenen schon viele Male gesehen und frage mich immer, wie es wohl sein würde, so dazuliegen und von einem strengen Computer am Leben erhalten zu werden. Normalerweise besuche ich natürlich Herzpatienten - solche, die lange genug gelebt haben, um ins Krankenhaus zu kommen - üblicherweise ins Herzzentrum im Killinghall Hospital (ein Name, der in das ganze todernste Geschäft wenigstens einen Funken ironischen Humors einbringt). Die Patienten auf der Intensivstation sind normalerweise nicht in der Lage, auch nur zu erkennen, dass ich da bin - obwohl man das ja genau nie weiß. Es ist viel wichtiger für die Familie zu wissen, dass »der Rabbi da gewesen ist«. Deshalb hinterlasse ich auch immer meine Karte beim Personal.
    Eine Frau saß an Benjamins Bett und hielt seine Hand, die über den Rand hing. Als ich eintrat, schaute sie auf und lächelte mir entgegen. »Ich bin der Rabbi«, sagte ich. »Man hat mich gerade informiert.«
    »Ich weiß«, sagte sie. »Ich habe darum gebeten, dass in der Synagoge angerufen wird. Danke, dass Sie so schnell gekommen sind.«
    »Wie geht es ihm?«, fragte ich. »Wie lange liegt er schon so?«
    »Er bekam gestern Abend Fieber und hatte Kopfschmerzen. Aber heute Morgen wollte er schon wieder zur Schule gehen, der brave Junge, und niemand hätte gedacht, dass es so ernst sei. Dort ist er dann zusammengebrochen. Sein Vater müsste bald hier sein - er ist nach Manchester gefahren zu einem Termin, aber die Schule hat ihn schon über seine Firma erreicht. Der arme Mann, es wird ihm schrecklich gehen.«
    Im Laufe der Jahre lernt man, aus dem, was Menschen sagen, Hinweise herauszulesen. » Sein Vater« - nicht » mein Mann«. » Der arme Mann« - nicht » mein armer Mann«. Ganz offensichtlich war hier etwas seltsam - ich versuchte verzweifelt, mich zu erinnern, ob ich etwas über diese Familie wusste, aber mir fiel nichts Relevantes ein. Man kann nicht alle Gemeindemitglieder kennen, es dauert Jahre, bis man alle wichtigen Details weiß - wer wen geheiratet hat, welche Kinder adoptiert wurden und Ähnliches.
    »Können wir ein Gebet sprechen, Rabbi?«, fragte sie.
    Ich hatte einen Siddur in meiner Handtasche, manchmal lese ich etwas, manchmal nicht, ich dränge es niemals auf, ich weiß, wie ungläubig viele meiner Leute sind, ich möchte nicht einer der Typen sein, die darauf bestehen, zwanzig Psalmen als eine Art Medizin zu lesen - aber es ist immer nützlich, einen Siddur dabeizuhaben. Ich nahm ihn also heraus - bei dem Gebet für die Kranken steckte bereits ein Lesezeichen. Ich schlug die Seite auf, zog mir einen Stuhl neben sie, und gemeinsam lasen wir das Gebet laut vor. Sie dankte mir, dann saßen wir schweigend zwei, vielleicht drei Minuten beisammen. Ich wusste, dass ich fragen musste, aber ich wusste auch, dass dies weder der rechte Zeitpunkt noch der rechte Ort war, um zu erfahren, ob sie geschieden waren und das ganze Wann und Wie und Warum. Aber wenn man lange genug wartet, werden die Informationen oft freiwillig gegeben. Als junger Rabbi war ich manchmal ins Fettnäpfchen getappt, bevor ich lernte zu warten. Wir saßen da und betrachteten den Jungen, der leise in seine Maske atmete. Grüne Zickzacklinien liefen über Monitore. Zwei Plastikflaschen hingen an einem Ständer - eine war eine Salz- und Zuckerlösung, die zweite, mit einem raffinierteren Etikett, führte in seinen anderen Arm.
    Schließlich fragte ich ruhig, die Worte sorgfältig wählend: »Sein Vater ist also unterwegs von Manchester hierher?«
    »Das ist richtig. Ich hoffe, er fährt vorsichtig. Doch darum wird sich jemand anders kümmern müssen. Der arme Mann wird völlig aufgelöst sein. Es ist erst zwei Jahre her, dass seine Frau gestorben ist. Jetzt hat er nur noch Ben.«
    Natürlich! Ich hätte mich selbst treten können. Krebs. Eine schreckliche Geschichte. Es war sehr schnell gegangen. Bei der Beerdigung waren viele Leute gewesen. Ich erinnerte mich wieder an einen großen Mann mit dunklem Haar und faltigem Gesicht. An ein Kind, einen kleinen Sohn. Der Name der Mutter? Sandra? Sandy? Cindy? Cynthia? So etwas Ähnliches. Es ist schrecklich, aber man beerdigt so viele, dass man sie bald wieder vergisst. Mein mentales Karteikartensystem ratterte los und suchte nach weiteren Informationen.
    »Und Sie … darf ich fragen … sind Sie Bens Tante?«
    In diesem Moment streckte
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