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Auch sonntags Sprechstunde

Auch sonntags Sprechstunde

Titel: Auch sonntags Sprechstunde
Autoren: Robert Tibber
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plötzlich eine entzückende kleine Florence Nightingale an meiner Seite, deren Augen die Farbe von Brandy zeigten.
    Wir speisten bei Kerzenschein auf der Terrasse, und viele maskierte Paare wanderten umschlungen in die Tiefe des Gartens, tanzten und hörten den komischen Erzählungen von Sophie Trilling zu. Ich hatte mich gerade behaglich den kleinen Brandy-Augen unter dem grünen Dach des Gartenhauses genähert, an dem echte Melonen hingen, als die Tür plötzlich von Victor Trilling aufgestoßen wurde.
    »Nur ruhig bleiben, er tut uns nichts«, sagte ich und nahm meinen Mund von dem Florence Nightingales. »Denke an die Melonen.«
    »Die Polizei ist da«, sagte Victor, »und fragt nach Ihnen.«
    Ich küßte Florence Nightingale auf die Nasenspitze. »Schade, mein Kleines, aber die Pflicht ruft.« Ich vermutete, daß es sich wieder um Mr. Pierce.handelte. »Vielleicht treffen wir uns auf der Krim oder anderswo wieder.«
    Die Polizeioffiziere, die zu zweit auftraten, waren indessen nicht wegen Mr. Pierce gekommen. »Tut uns leid, Sie stören zu müssen, Sir«, sagten sie und betrachteten das Blut auf meinem Hemd, »aber ein Patient von Ihnen, ein Mr. Bull, braucht Sie dringend, und da seine Frau keinen Arzt finden konnte, hat sie uns angerufen.«
    »Aber mein Stellvertreter, Dr. Letchworth, ist im Dienst. Das Telefon muß zu ihm umgestellt sein.«
    »Nun, es tut uns wirklich leid, daß wir Sie belästigen müssen, Sir, aber Dr. Letchworth ist nicht zu Hause und hat sich während des ganzen Abends nicht gemeldet. Der Patient ist sehr besorgt und braucht dringend ärztlichen Beistand.«
    Ich holte Marie-Antoinette aus den Armen Karls I. und sagte ihr, daß wir sofort aufbrechen müßten. »Wo, um Himmels willen, mag Robin nur stecken?« überlegte ich. »Wir müssen ihn sofort suchen.«
    Auf dem Heimweg schaute ich bei Mr. Bull herein, und dann fuhr ich nach Hause, um dort nach dem Rechten zu sehen.
    Dr. Letchworth sei bald nach uns gegangen, sagte Mrs. Watts, unser Babysitter. Er habe gesagt, daß er nach Hause gehe, und seitdem hatte sie ihn nicht mehr gesehen.
    Robins Haushälterin indessen erklärte, Dr. Letchworth sei gegen sechs zu uns gefahren und seitdem nicht zurückgekehrt. Es war nur der eine Anruf von Mrs. Bull angekommen, und sie habe keine Ahnung gehabt, wo Dr. Letchworth sein mochte.
    Mein Sprechzimmer und Robins Zimmer waren dunkel. Er hatte mir gesagt, daß er seine Korrespondenz erledigen wolle. Der Schreibtisch war ordentlich aufgeräumt, und er hatte offenbar noch eine Zeitlang daran gearbeitet. Einem Einfall nachgebend, zog ich die Vorhänge zurück, die seine Untersuchungscouch verdeckten: Robin lag darauf. Er war tot.
     

19
     
    Wir Menschen wissen voneinander nichts. Das hatte ich gelernt. Hätte mir jemand gesagt, daß Robin in dieser schönen Sommernacht Selbstmord verüben würde, ich hätte ihn für verrückt erklärt. Robin! Robin, der Liebe, mein Freund! Es war nicht möglich. Ich hatte bei Sophie zu viel getrunken. Aber ich wußte, daß er tot war, meine Augen und meine Hände sagten es mir. Ich überlegte, was der Grund gewesen sein mochte und bemerkte sein Notizbuch, in dem er seine Visiten notiert hatte; es lag auf dem Fußboden, daneben ein Bleistift, der ihm aus der Hand gefallen sein mußte. Ich hob das Büchlein auf. Am Schluß der Eintragungen des Vortages hatte er notiert: »Barbiturate, mehr als genug. Traurige Sache. Kann die Situation nicht meistern. Ich liebe sie bis zum Wahnsinn, liebe sie noch immer und werde sie lieben, lieben, lieben... «
    Ich wußte sofort, daß es sich um Lucy Gunner handelte und verfluchte mich noch nachträglich, weil ich derart mit Blindheit geschlagen gewesen war. Und dann rief ich zum zweitenmal an diesem Tag die Polizei an.
    Nachdem alles geschehen war, fiel es nicht schwer, klüger zu sein. Robin war in letzter Zeit nicht mehr der alte gewesen, er hatte seine Fröhlichkeit verloren, die Patienten gingen ihm auf die Nerven. Und dann fiel mir ein, daß er nach seiner Rückkehr aus den Ferien sofort zu Lucy Gunner gegangen war, ehe er seinen Dienst offiziell aufgenommen hatte. Und wie schnell war er zur Stelle gewesen, als sie damals die Überdosis Schlaftabletten genommen hatte!
    »Er konnte die Verhältnisse nicht mehr ertragen.« Es war Freud, der festgestellt hatte, daß das Wichtigste für den Erfolg einer psychiatrischen Behandlung die Zuneigung des Patienten zum Arzt sei. Kurz gesagt, Lucy Gunner hatte sich eingebildet, Robin zu lieben -
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