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Auch sonntags Sprechstunde

Auch sonntags Sprechstunde

Titel: Auch sonntags Sprechstunde
Autoren: Robert Tibber
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trinkst ein bißchen, und dann wird es goldrichtig sein. Das heißt, wenn man dich auch ohne Kostüm zuläßt. Ich werde mich jetzt anziehen.«
    Um sieben Uhr dreißig schritt Marie-Antoinette, mit grauer Perücke, Schönheitspflästerchen und allem Drum und Dran langsam die Treppe hinunter.
    »Du wirst vor Hitze in dem Ding umkommen.«
    »Du bist sehr galant. Ist das alles, was du mir zu sagen hast?«
    »Nein. Du siehst wunderschön aus. Ganz wie Marie-Antoinette.«
    »Und du siehst gräßlich .aus. Du hast dich noch nicht mal umgezogen.«
    Der Vorwurf war berechtigt. Mein »Abendanzug« war unmodern geworden und wog über eine Tonne, und ich hatte absolut kein Verlangen danach, ihn anzuziehen, gab mir jedoch einen Ruck und ging ebenfalls zum Umziehen hinauf.
    Inzwischen war Robin eingetroffen.
    »Du hast deine Socken nicht gewechselt«, sagte Marie-Antoinette.
    Das stimmte. Ich hatte vergessen, die braunen Socken zu wechseln. »Die gehören zu meinem Kostüm.«
    Marie-Antoinettes Augen füllten sich mit Tränen. »Du bist heute wieder einmal schrecklich. Und du weißt ganz genau, daß meine Wimperntusche ausläuft, wenn du mich zum Weinen bringst, und daß ich mir die Augen wischen muß und meine Linsen verliere... «
    »Oh, nein, nur das nicht!« Es war viel zu heiß, um auf Händen und Knien ein Suchspiel zu veranstalten.
    »Ich werde lieber meine Socken wechseln.«
    Ich übergab Robin alle laufenden Meldungen, sagte den Zwillingen gute Nacht, die über ihr Mutter kicherten, und machte Anstalten zu gehen. Robin erklärte, er habe nur einiges von seiner Korrespondenz erledigen können, da er nun Dienst machen müsse. Ich hatte einen Fuß bereits auf dem Gartenweg, als das Telefon läutete. Robin antwortete, während ich wartete.
    Er legte eine Hand über die Muschel. »Mr. Newbold hat einen Blutsturz.«
    »Er wohnt gleich an der Ecke bei den Trillings. Ich setze Sylvia ab und schaue mit zu ihm hinein. Es lohnt sich nicht für dich, extra hinzufahren.«
    »O. k.«, sagte Robin. »Viel Spaß denn.«
    Ich verließ die arme Marie-Antoinette höchst ungalant vor dem Haus der Trillings, denn der Anruf war außerordentlich dringlich gewesen, und ich schnitt die Kurven, um so schnell wie möglich zu den Newbolds zu gelangen.
    Mr. Newbold befand sich in bedenklichem Zustand, er erbrach Blut, das Schlafzimmer sah wie eine Mördergrube aus, und die ältliche Mrs. Newbold war damit beschäftigt, Behälter zu bringen und die Hände zu ringen. Ich warf einen raschen Blick auf den Patienten, gab ihm eine Spritze und rief die Unfallstation an, die blitzschnell kommen sollten. Ich wartete bis zu ihrem Eintreffen. Für Mr. Newbold bestand wenig Hoffnung.
    Der Wagenzahl nach zu urteilen, die vor dem Trillingschen Haus und in beiden Straßenrichtungen parkten, und gemessen an der Tanzmusik, die die nächtliche Luft erfüllte, war die Party in vollem Schwung. Meine Lust, zu der Party zu gehen, war gleich null. Insgeheim hoffte ich, daß die Bar nahe war.
    Ein Diener öffnete mir und überreichte mir eine schwarze Maske, die ich nur zu gern umlegte. »Der Tanzraum und die Bar sind unten, Sir«, sagte er.
    Ich ging die Treppe hinunter und bahnte mir einen Weg durch die rauchgeschwängerte stickige Luft, hindurch zwischen Königen und Königinnen, Rittern, Ministern, Schauspielern, Minnesängern und Hofnarren zum anderen Ende des Raumes, wo ich die Bar erkennen konnte. Unter dem Kronleuchter wurde ich von Sophie Trilling angehalten, die sich in einem Königin-Elisabeth I.-Kostüm versteckt hatte. Sie trug eine Maske, aber ihre türkische Zigarette und ihre Stimme machten sie leicht kenntlich.
    Meine beiden Hände in die ihren nehmend, küßte sie mich. »Wie ganz besonders reizend, daß Sie gekommen sind, Sie vielbeschäftigter Mann, und was für eine großartige Idee!« Sie drehte mich herum. »Seht doch, Kinder! Darf ich Ihnen Dr. Crippen persönlich vorstellen?« Ich sah an mir herunter und bemerkte mit Entsetzen das Blut von Mr. Newbold, das mein Hemd bespritzt hatte.
    »Sieht ganz echt aus«, sagte Sophie. »Ehrlich, man könnte sich direkt fürchten.« Aus der Ecke lächelte Marie-Antoinette mir zu.
    Alles in allem war es gar keine so schlechte Party. Als ich meine schlechte Laune überwunden und der Alkohol die Sorgen des anstrengenden Tages weggeschwemmt hatte, begann ich sogar Spaß an der Sache zu finden. Marie-Antoinette war mit Karl I. beschäftigt, obgleich sie sich in den Jahrhunderten ein wenig geirrt hatten, und ich hatte
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