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Atme nicht

Atme nicht

Titel: Atme nicht
Autoren: Jennifer R. Hubbard
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hin und her, als sei sie nicht sicher, wo sie hingehörte.
    Ich watete aus dem Wasser. Während ich mich abtrocknete, spürte ich die Blicke der anderen. Wenn ich davonging, ohne etwas zu sagen, würden sie das nicht ungewöhnlich finden. Wahrscheinlich erwarteten sie von mir ohnehin nichts anderes.
    Und was war mit Nicki?
    Sie hatte gesagt: »Manchmal denke ich, dass ich dich sehr mögen könnte, wenn du das zulassen würdest«, und über diese Worte hatte ich wieder und wieder nachgedacht.
    Diese Worte hätte ich auch zu Val sagen können. Doch wenn ich jetzt mit ihr sprach oder sie sah, spürte ich, dass die Kluft zwischen uns immer breiter wurde.
    Manchmal denke ich, dass ich dich sehr mögen könnte .
    Unsere Blicke trafen sich. Nicki sah sofort weg.
    Ich dachte, dass auch ich sie sehr mögen könnte. Vielleicht tat ich es bereits.
    Trotz allem. Vielleicht wegen allem. Weil wir beide wussten, wie es war, sich mies zu fühlen und den falschen Weg zu wählen, um damit fertig zu werden. Weil wir beide Dinge verheimlicht hatten, die wir einfach nicht zugeben konnten . Weil wir beide glauben wollten, dass es so etwas wie Vergebung gab.
    Ich wrang mein Handtuch aus, ging zu der Gruppe hinüber und sagte Hi. Sie nickten mir zu, rissen ein paar Witze darüber, dass nächste Woche die Schule wieder anfing, und boten mir eine Zigarette an. Ich hatte völlig vergessen, wie es war, mit anderen zu reden – zumindest ungezwungen zu reden – und über ganz alltägliche Sachen zu quatschen. Doch wenn ich ins Stottern geriet oder den Faden verlor, sahen sie darüber hinweg und antworteten mir, als wäre ich ein normaler Mensch. Als gehörte ich zu ihnen. Ich wusste nicht, ob sie das mir oder Nicki zuliebe machten, doch nach ein paar Minuten bröckelte der Rost von meiner Stimme, und es gelang mir, wie ein menschliches Wesen zu klingen.
    Nicki saß schweigend dabei. Ihr Gesicht hatte die Farbe eines gerade in heißem Wasser gekochten Hummers. Als der Wind ihr eine Haarsträhne gegen die Wange wehte, hätte ich sie ihr am liebsten aus dem Gesicht gestrichen.
    »Wollen wir einen Spaziergang machen?«, fragte ich sie. Ihr Gesicht wurde noch röter als zuvor, was ich gar nicht für möglich gehalten hätte.
    »Ja.«
    Wir verabschiedeten uns von den andern und gingen den Pfad entlang, der zu unserm Haus führte. Sobald wir allein waren, sagte ich: »Das mit deinem Dad tut mir leid. Aber ich habe wirklich keine magischen Antworten für dich.«
    »Ich weiß«, erwiderte sie. »Ist schon okay.« Nach einer Pause fügte sie hinzu: »Jedenfalls halbwegs.«
    »Und dir ist klar, dass du an dem, was er getan hat, keine Schuld hattest?«
    »Das weiß ich. Nicht immer, aber meistens.«
    »Aber es ist so. Du hattest nichts damit zu tun.«
    »Danke«, sagte sie so leise, dass ich es fast nicht gehört hätte.
    Mein Mund war auf einmal so trocken, dass ich es nicht schaffte weiterzusprechen, obwohl ich mir alle Mühe gab.
    »Was ist?«, fragte sie und ich schüttelte den Kopf. Daraufhin machte sie halt. Ich blieb ebenfalls stehen und drehte mich zu ihr. Ich wollte vor allem eins: sie berühren – ihren Arm oder vielleicht ihren Rücken, und zwar auf die gleiche Weise, wie sie mich auf der Terrasse berührt hatte.
    Ich wusste immer noch nicht genau, wie wir zueinander standen, aber es war auch noch nicht nötig, ein Etikett auf unsere Beziehung zu kleben. Bevor ich mit Sicherheit etwas sagen konnte, musste Vals Schatten weiter verblassen, doch ich meinte zu wissen, was mich danach erwarten würde. Ich versuchte, die Hand zu bewegen, und für den Bruchteil einer Sekunde dachte ich, die Glasscheibe sei wieder da und blockiere mich. Doch dann gelang es mir, den Arm zu heben, obwohl er sich steif und schwer wie Blei anfühlte, und Nicki die Hand auf die Schulter zu legen. Ich strich mit dem Daumen über den Saum ihres T-Shirts. Sie legte mir die Hand in den Nacken, über den immer noch Wasser aus meinen Haaren sickerte. »Du zitterst ja«, sagte sie.
    »Ich weiß.«
    Ihre Finger streichelten meinen Nacken, und ich merkte, dass nicht nur ich zitterte.
    Nicht mal ansatzweise hatte ich das Gefühl, wie erstarrt zu sein. Ich spürte den rauen Stoff ihres T-Shirts und die Wärme ihrer Haut, spürte, wie ihre Schultern sich beim Atmen auf und ab bewegten. Wir schmiegten uns aneinander, und ich neigte den Kopf, um meine Stirn gegen ihre zu drücken. Es ängstigte mich, ihr so nahe zu sein, aber ich blieb, wo ich war. Ich rührte mich nicht von der
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