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Atme nicht

Atme nicht

Titel: Atme nicht
Autoren: Jennifer R. Hubbard
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Wasserfall. »Soll ich mich mal da runterstellen?«
    »Nein, dafür ist das Wasser heute zu kalt und hat zu viel Power. Das wäre gefährlich.«
    Sie leckte sich über die Lippen und trat ins Wasser, das sich um ihre Füße kräuselte. Sie trug ein Tanktop und Shorts, die sie anbehielt. Während sie geradewegs auf den Wasserfall zuging, rutschte sie einmal auf den moosigen Steinen aus.
    Ich verfolgte jede ihrer Bewegungen. Vor Angst wurde mir ganz flau im Magen, meine Kehle war wie zugeschnürt. Obwohl ich sie eigentlich gar nicht kannte, wollte ich natürlich nicht, dass ihr etwas passierte, dass sie vor meinen Augen unter Wasser gedrückt wurde und ertrank. Dann verschwand sie hinter dem silbernen Vorhang aus Gischt.
    Ich konnte sie nicht mehr sehen, stand auf, kniff die Augen zusammen und spähte in das schäumende Wasser.
    Meine Finger klopften rhythmisch gegen meine Schenkel, als zählten sie, wie viele Sekunden sie schon unter dem Wasserfall stand. Wie lange sollte ich warten, bis ich ihr folgte? Sollte ich ihr überhaupt folgen? Vom Helden zum Idioten war’s schließlich nur ein kleiner Schritt.
    In dem Moment tauchte Kents Schwester wieder auf und spuckte das Wasser aus, das ihr in Mund und Nase geraten war. Das klatschnasse Haar klebte ihr am Kopf. Ich atmete erleichtert auf. Sie schob sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, schüttelte sich wie ein Hund und lachte. Dann watete sie auf mich zu.
    »Alles in Ordnung mit dir?«, fragte ich.
    Ihre Lippen waren blaurot, ihre Zähne klapperten.
    »Ich hätte ein Handtuch mitbringen sollen«, sagte sie.
    Das war mir auch schon passiert – erst dann ans Handtuch zu denken, als ich bereits nass war. »Zu Hause kann ich dir eins geben.«
    »Okay.« Sie rieb sich die Arme. »Hört sich klasse an.«
    Ich führte sie durch den Wald zu unserem Haus, das ganz in der Nähe lag. Ich hatte keine Ahnung, wie ich mich verhalten sollte – ob ich sie ansehen, wie lange ich sie ansehen, wie dicht ich neben ihr hergehen sollte. Ich redete nicht viel mit anderen, außer mit Jake und Val, mit denen konnte ich über alles reden. Aber was sollte man zu Leuten sagen, die man kaum kannte? Das war es, worin ich Unterricht brauchte – nicht in Mathe und Geschichte.
    Von ihrer Kleidung und ihren Haaren tropfte Wasser auf die Kiefernnadeln, mit denen der Waldpfad bedeckt war. Ab und zu streckte sie die Hand aus, um über die Zweige der Kiefern zu streichen, die links und rechts des Weges standen. »Jetzt kann ich mir also endlich mal das Glashaus ansehen«, sagte sie mit klappernden Zähnen.
    »Erwarte bloß nicht zu viel. So aufregend ist es nicht.«
    »Sicher aufregender als unser Haus.«
    Was erwartete sie eigentlich? Brunnen, aus denen Champagner floss? Ein Privattheater?
    Nachdem ich über eine Wurzel gestolpert war und fast das Gleichgewicht verloren hätte, beschloss ich, den Blick von nun an fest auf den Boden zu richten.
    »Ich glaube, ich hab dich gestern von Weitem am Wasserfall gesehen«, fuhr sie fort. »Du hast gelesen, bist aber gegangen, bevor ich da war.«
    »Ja, stimmt.«
    »Was hast du denn gelesen?«
    »Ein Buch über ein paar Typen, die versucht haben, den Pazifik auf einem selbst gebauten Floß zu überqueren.«
    »Den Pazifik? Auf einem Floß?« Sie schüttelte den Kopf. »Ist ja stark.«
    Genau deshalb hatte ich es lesen wollen. Obwohl niemand, den ich kannte, beeindruckt zu sein schien, wenn ich davon erzählte. Mein Dad hatte geantwortet: »Na sag mal an.« Das Gleiche hatte er gesagt, als meine Mutter ihm mitteilte, dass der Preis von Spargel gestiegen sei. Val hatte gemeint: »Meine Güte, manche Leute müssen sich aber auch alles verdammt schwer machen.« Und meinem Freund Jake schien nicht ganz klar zu sein, wo der Pazifik lag.
    »Und?«, fragte Kents Schwester. »Haben sie es geschafft?« Wenn mir bloß ihr Name eingefallen wäre! Jetzt tat es mir leid, dass ich sie nicht sofort danach gefragt hatte. Nicht nur weil sie sich für die Typen mit dem Floß interessierte, sondern weil sie nicht jedes Wort auf die Goldwaage legte, wenn sie mit mir sprach. So redete nämlich in der Schule praktisch jeder mit mir – als würde ich gleich zusammenbrechen, wenn er was Falsches zu mir sagte.
    »Nicht ganz«, erwiderte ich. »Sie mussten aufgeben, weil das Floß auseinanderfiel.«
    »Wäre super gewesen«, sagte sie. »Wenn sie es geschafft hätten, meine ich.«
    Unser Haus lag mitten im Wald und bestand hauptsächlich aus senkrechten Holzplanken und Glaswänden.
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