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Atme nicht

Atme nicht

Titel: Atme nicht
Autoren: Jennifer R. Hubbard
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presste das Gesicht ins Kissen. Ich versuchte, Nicki zu vergessen, versuchte, die Worte »sie ist nur nett zum Loser der Schule« ebenso aus meinem Gedächtnis zu streichen wie das höhnische Gekicher ihrer Freunde. Alles, was sie mir je erzählt hatte, wollte ich vergessen, doch meine Erinnerungen ließen sich nicht mehr aufhalten und schlugen wie eine Welle über mir zusammen – was sie über einen Jungen namens Bruce gesagt hatte, der am Wasserfall umgekommen sei, und dass ihr Vater eine Waffe besessen habe und sie herausfinden müsse, warum er es getan habe, weil er noch nicht mal einen Abschiedsbrief hinterlassen hatte – Gott, hatte sie mir überhaupt jemals die Wahrheit gesagt?
    Wenn ich mich in der Schule nicht von allen abgesondert hätte, hätte ich die Wahrheit vielleicht schon früher erfahren. Dann hätte mir wahrscheinlich jemand von Kents und Nickis Vater erzählt. Doch ich hatte mich so isoliert, dass nur das Gerücht von einem Toten am Wasserfall zu mir durchgedrungen war, und auf Gerüchte gab ich nichts. Um die große Mauer, die ich um mich errichtet hatte, hätte mich selbst China beneiden können.
    Bis dann Nicki über die Mauer gekommen war …
    Und ihr hatte ich alles erzählt. Als mir einfiel, wie viel ich gestern Abend preisgegeben hatte, wurde mir schlecht. Sie wusste, was ich für Val empfand. Sie kannte die Garagengeschichte. Und gestern Abend hatte ich von Frank erzählt, von Amy und dem Pullover.
    Ich wälzte mich auf den Rücken, starrte zur Decke und dachte daran zurück, wie wir nach meinem schrecklichen Erlebnis mit Val auf dem Picknicktisch gelegen hatten und Nicki mich heiß geküsst hatte. Ich spürte immer noch, wie sie sich an mich gepresst hatte, spürte die Wärme ihrer Lippen.
    Und ich hatte immer noch im Ohr, wie sie mir letzte Nacht auf dem Friedhof ihr Geheimnis zugeflüstert hatte. War sie wirklich mit ihrem Vater in Funworld gewesen? Oder hatte sie das auch erfunden? Was zum Teufel hatte sie gemacht – mit mir gespielt? Und warum hatte sie mir nie die Wahrheit über das erzählt, was am Wasserfall wirklich passiert war?
    In der Klinik hatte ich pathologische Lügner kennengelernt. Natürlich hatten wir alle ein bisschen gelogen, weil es Dinge gab, die wir einfach nicht eingestehen konnten . Aber so große Lügen wie die von Nicki hatten nur wenige erzählt.
    Ich drehte mich wieder auf den Bauch. Jedes Wort, das Nicki zu mir gesagt hatte, hallte in meinen Ohren nach.
    In meinem Innern entstand ein Brausen und Rauschen, das immer stärker wurde. Ich fing an, mich überall zu kratzen. Wenn ich mich in der Klinik in einem solchen Zustand befunden hatte, hatte man mir empfohlen, offen über alles zu sprechen. (»Leb es nicht aus, sprich es aus«, sagte man zu denen, die dazu neigten, mit Stühlen zu werfen, und zu anderen wie mir sagte man: »Friss es nicht in dich hinein, sprich darüber.«) Aber an wen konnte ich mich jetzt wenden? Dr. Briggs war nicht da. Mit ihrem Vertreter Dr. Solomon hatte ich mich nur einmal unterhalten.
    Jake war in der Klinik.
    Val schied aus. Nachdem sie mich abgewiesen hatte, konnte ich ihr nicht erzählen, dass mich ein anderes Mädchen zum Narren gehalten hatte. Ich konnte nicht auch noch das letzte bisschen Stolz, das ich Val gegenüber hatte, verlieren, denn ich war stolz darauf, dass ich nicht vor ihren Augen zusammengebrochen war, als sie sich von mir abgewandt hatte.
    Mein Dad war auf Reisen. Mit meiner Mutter konnte ich nicht sprechen, nicht nach dem, was sie neulich im Diner gesagt hatte. Es sei denn, ich wollte, dass sie einen Herzinfarkt bekam.
    Ich versuchte, tief ein- und auszuatmen. Ich wackelte mit den Zehen, kratzte mir die Arme, zog Fäden aus meiner Bettdecke. Dann zählte ich, bis ich in die Tausender kam, geriet durcheinander und fing wieder von vorn an.
    Val wollte mich nicht. Jake hatte Probleme. Meine Mutter würde nie über jene Nacht in der Garage und meinen Aufenthalt in der Klinik hinwegkommen. Die einzige Person, der ich in der letzten Zeit hatte vertrauen können, war Nicki, und jetzt …
    Ich ging ins Badezimmer und öffnete das Medizinschränkchen.
    Nachdem meine Eltern mich beim Horten von Medikamenten erwischt hatten, hatten sie alle Schränkchen und Wandschränke ausgemistet. Jetzt gab es bei uns nur noch ungiftige Putzmittel, und wenn meine Eltern Medikamente kauften, dann die kleinsten Packungen, die auf dem Markt waren. Meine Antidepressiva hielten sie unter Verschluss und teilten mir jeweils nur eine
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