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Atemschaukel

Titel: Atemschaukel
Autoren: Herta Mueller
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Ich schluck die kalte Luft, bisich nicht mehr im Lager bin. Dann schließe ich das Fenster und leg mich wieder hin. Das Bettzeug weiß von nichts und wärmt. Die Luft im Zimmer schaut mich an und riecht nach warmem Mehl.

Zement
    Zement reichte nie. Kohle gab es mehr als genug. Auch Schlackoblocksteine, Schotter und Sand gab es genug. Der Zement aber ging immer aus. Er wurde von sich aus weniger. Man musste sich in acht nehmen vor dem Zement, er konnte zum Alptraum werden. Nicht nur von sich aus, sogar in sich selbst konnte Zement verschwinden. Dann war alles voller Zement, und es war kein Zement mehr da.
    Der Brigadier schrie: AufZement muss man aufpassen.
    Der Vorarbeiter schrie: Zement muss man sparen.
    Und wenn der Wind ging: Zement darf nicht wegfliegen.
    Und wenn es regnete oder schneite: Zement darf nicht nass werden.
    Zementsäcke sind aus Papier. Das Zementsackpapier ist zu dünn für einen vollen Sack. Man kann den Sack allein oder zu zweit tragen, am Bauch oder an seinen vier Ecken packen – er reißt. Mit einem zerrissenen Sack kann man Zement nicht mehr sparen. Bei einem trockenen zerissenen Zementsack läuft die Hälfte auf den Boden. Bei einem feuchten zerrissenen Zementsack bleibt die Hälfte am Papier kleben. Man kann es nicht ändern, je mehr man Zement spart, um so mehr verausgabt sich der Zement. Der Zement ist ein Betrug wie Straßenstaub, Nebel und Rauch – er fliegt in der Luft, kriecht auf der Erde, klebt an der Haut. Überall ist er zu sehen und nirgends zu fassen.
    Zement muss man sparen, aber aufpassen muss man beim Zement auf sich selbst. Man trägt den Sack mit Gefühl, trotzdem wird der Zement immer weniger. Man wird als Wirtschaftsschädling beschimpft, als Faschist, Saboteur und Zementdieb. Man stolpert durchs Geschrei und stellt sich taub. Den Mörtelkarren schiebt man auf einem schiefen Brett das Gerüst hinauf zu den Maurern. Das Brett schwingt, man hält sich am Karren fest. Man könnte bei dem Schwingen in den Himmel fliegen, weil der leere Magen in den Kopf steigt.
    Was wollen die Zementwächter mit ihrem Verdacht. Als Zwangsarbeiter hat man nichts als eine Pufoaika, einen Watteanzug, am Leib und in der Baracke einen Koffer und ein Bettgestell. Wozu sollte man Zement stehlen. Man nimmt ihn nicht als Diebstahl mit, sondern als zudringlichen Dreck. Jeden Tag hat man seinen blinden Hunger, aber Zement kann man nicht essen. Man friert oder schwitzt, aber Zement wärmt nicht und kühlt nicht. Er schürt den Verdacht, weil er fliegt und schleicht und klebt, weil er hasengrau, samtig und amorph ohne Grund verschwindet.
    Die Baustelle war hinterm Lager, neben dem Pferdestall, in dem es nur Futtertröge und längst kein Pferd mehr gab. Es wurden sechs Wohnhäuser für Russen gebaut, sechs Zweifamilienhäuser, sagte man uns. Jedes Haus hatte drei Zimmer. Aber wohnen werden in jedem mindestens fünf Familien, dachten wir uns, weil wir beim Hausieren die Armut der Leute sahen und die vielen mageren Schulkinder. Mädchen wie Jungen, alle kahlgeschoren, alle in hellblauen Flügelkleidchen. Immer paarweise, händchenhaltend im Gänsemarsch mit heroischen Liedern durch den Schlammneben der Baustelle. Hinten und vorn stapfte eine runde stumme Madame, schaute verdrießlich und schaukelte den Hintern wie ein Schiff.
    Auf der Baustelle gab es acht Brigaden. Sie gruben Fundamente, schleppten Schlackoblocksteine und Zementsäcke, rührten die Kalkmilch und die Betonmischung an, gossen die Fundamente aus, machten Mörtel für die Maurer, trugen ihn mit der Trage, schoben ihn mit dem Schubkarren aufs Gerüst, machten den Verputz für die Wände. Die sechs Häuser wurden alle gleichzeitig gebaut, ein Hin- und Herlaufen, alles ging durcheinander, und es tat sich fast nichts. Man sah die Maurer, den Mörtel und die Ziegel auf dem Gerüst, aber man sah nicht, dass die Mauern wuchsen.
    Es ist das Vertrackte am Bauen – wenn man den ganzen Tag hinschaut, sieht man nicht, wie die Wände wachsen. Nach drei Wochen sind sie dann plötzlich hoch, sie müssen gewachsen sein. Vielleicht über Nacht, selbständig wie der Mond. So unbegreiflich wie der Zement verschwindet, wachsen auch die Wände. Man wird herumkommandiert, fängt etwas an und wird weggejagt. Man wird geohrfeigt und getreten. Man wird innen stur und schwermütig und außen hündisch und feig. Der Zement frisst das Zahnfleisch wund. Wenn man den Mund öffnet, zerreißen die Lippen wie Zementsackpapier. Man hält den Mund und gehorcht.
    Höher
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