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Atemschaukel

Titel: Atemschaukel
Autoren: Herta Mueller
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Vermögen wert. An das Salz und seinen Wert kann ich mich erinnern. An das Zahnbürstchen überhaupt nicht. Mitgenommen im Necessaire habe ich eins. Aber das kann keine vier Jahre gehalten haben. Und eine neue Zahnbürste kaufte ich mir, wenn überhaupt, erst im fünften und letzten Jahr, als wir Geld auf die Hand kriegten, Bargeld für unsere Arbeit. Doch auch an meine neue Zahnbürste, wenn es sie gegeben hat, kann ich mich nicht erinnern. Vielleicht wollte ich für mein Bargeld auch lieber neue Kleider als eine neue Zahnbürste. Meine erste sichere Zahnpasta, die ich von zu Hause mitgenommen hatte, hieß CHLORODONT. Dieser Name kann sich an mich erinnern. Die Zahnbürsten, sowohl die sichere erste als auch die mögliche zweite, haben mich vergessen. Genauso ist es mit meinem Kamm. Einen muss ich ja gehabt haben. An das Wort BAKELIT kann ich mich erinnern. Zu Kriegsende waren bei uns zu Hause alle Kämme Bakelitkämme.
    Kann es sein, dass ich die von zu Hause mitgebrachten Sachen eher vergessen habe als die im Lager erworbenen. Und wenn, liegt es daran, dass sie mit mir mitgekommen waren. Dass ich sie besaß und weiter benutzte, bis sie abgenutzt waren und darüber hinaus, so als wäre ich mit ihnennicht woanders, sondern zu Hause. Kann es sein, dass ich mich an die Gegenstände der anderen besser erinnern kann, weil ich sie ausleihen musste.
    Gut erinnern kann ich mich an die Blechkämme im Lager. Sie kamen in der Läusezeit auf. Die Dreher und Schlosser machten sie in der Fabrik und schenkten sie den Frauen. Sie waren aus Aluminiumblech mit schartigen Zähnen und fühlten sich in der Hand und auf der Kopfhaut feucht an, weil sie einen kalten Hauch hatten. Wenn man mit ihnen hantierte, übernahmen sie schnell die Körperwärme, dann rochen sie bitter wie Rettich. Der Geruch blieb in der Hand, wenn man den Kamm längst weggelegt hatte. Mit den Blechkämmen machten die Haare Nester, man musste zerren und ziehen. In den Kämmen blieben mehr Haare hängen als Läuse.
    Aber es gab fürs Läusekämmen auch viereckige, beidseitig gezahnte Hornkämme. Die Dorfmädchen hatten sie von zu Hause mitgebracht. Auf einer Seite dicke Zähne zum Scheitelziehen und Haareteilen, auf der anderen Seite sehr feine Zähne zum Läusekämmen. Die Hornkämme waren solide, lagen schwer in der Hand. Die Haare ließen sich ziehen und blieben glatt. Die Hornkämme konnte man sich von den Dorfmädchen leihen.
    Seit sechzig Jahren will ich mich in der Nacht an die Gegenstände aus dem Lager erinnern. Sie sind meine Nachtkoffersachen. Seit der Heimkehr aus dem Lager ist die schlaflose Nacht ein Koffer aus schwarzer Haut. Und dieser Koffer ist in meiner Stirn. Ich weiß nur seit sechzig Jahren nicht, ob ich nicht schlafen kann, weil ich mich an die Gegenstände erinnern will, oder ob es umgekehrt ist. Ob ich mich mit ihnen herumschlage, weil ich sowieso nichtschlafen kann. So oder so, die Nacht packt ihren schwarzen Koffer gegen meinen Willen, das muss ich betonen. Ich muss mich erinnern gegen meinen Willen. Und auch wenn ich nicht muss, sondern will, würde ich es lieber nicht wollen müssen.
    Manchmal überfallen mich die Gegenstände aus dem Lager nicht nacheinander, sondern im Rudel. Darum weiß ich, dass es den Gegenständen, die mich heimsuchen, gar nicht oder nicht nur um meine Erinnerung geht, sondern ums Drangsalieren. Kaum denke ich, dass ich Nähzeug im Necessaire mitgenommen hatte, da mischt sich das Handtuch ein, von dem ich nicht weiß, wie es aussah. Dazu kommt eine Nagelbürste, von der ich nicht weiß, ob ich sie hatte. Dazu noch ein Taschenspiegel, den es gab oder nicht. Dazu eine Handuhr, von der ich nicht weiß, wo sie hingekommen ist, falls ich sie mitgenommen hatte. Gegenstände, die vielleicht nichts mit mir zu tun hatten, suchen mich. Sie wollen mich nachts deportieren, ins Lager heimholen, wollen sie mich. Weil sie im Rudel kommen, bleiben sie nicht nur im Kopf. Ich hab ein Magendrücken, das in den Gaumen steigt. Die Atemschaukel überschlägt sich, ich muss hecheln. So eine Zahnkammnadelscherenspiegelbürste ist ein Ungeheuer, so wie der Hunger ein Ungeheuer ist. Und es gäbe die Heimsuchung der Gegenstände nicht, wenn es den Hunger als Gegenstand nicht gegeben hätte.
    Wenn mich nachts die Gegenstände heimsuchen und mir im Hals die Luft abdrosseln, reiße ich das Fenster auf und halte den Kopf ins Freie. Am Himmel steht ein Mond wie ein Glas kalte Milch, sie spült mir die Augen. Mein Atem findet wieder seinen Takt.
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