Atemschaukel
als jede Wand wächst das Misstrauen. In dieser Baustellenschwermut verdächtigt jeder den anderen, dass er am Zementsack das leichtere Ende zu tragen hat, dass er einen ausnützt und sich schont. Jeder wird vom Geschrei erniedrigt, vom Zement hintergangen, von der Baustelle betrogen. Höchstens wenn einer stirbt, sagt der Vorarbeiter:Schalko, otschin Schalko, sehr schade. Gleich danach wechselt er den Ton und sagt: Wnimanije, Achtung.
Man schuftet und hört seinen eigenen Herzschlag und: Zement muss man sparen, auf Zement muss man aufpassen, Zement darf nicht nass werden, Zement darf nicht wegfliegen. Aber Zement streut sich, ist selbstvergeuderisch und mit uns geizig bis ins Letzte. Wir leben so, wie der Zement es will. Er ist ein Dieb, er hat uns gestohlen, nicht wir ihn. Und nicht nur das, vom Zement wird man gehässig. Der Zement sät das Misstrauen, indem er sich streut, der Zement ist ein Intrigant.
Jeden Abend auf dem Heimweg, in der nötigen Entfernung vom Zement, mit dem Rücken zur Baustelle, habe ich gewusst, dass nicht wir uns gegenseitig betrügen, sondern alle betrogen werden von den Russen und ihrem Zement. Aber am nächsten Tag kam wieder der Verdacht, gegen mein Wissen und gegen alle. Und das haben alle gespürt. Und alle gegen mich. Und das habe ich gespürt. Der Zement und der Hungerengel sind Komplizen. Der Hunger reißt die Poren auf und kriecht hinein. Wenn er drin ist, klebt der Zement sie zu, man ist zementiert.
Zement kann tödlich werden im Zementturm. Er ist 40 Meter hoch, fensterlos, leer. Fast leer, aber man kann darin ertrinken. Bei der Größe des Turms sind es kleine Reste, doch sie liegen frei herum, nicht abgefüllt in Säcken. Wir scharren sie mit bloßen Händen in Eimer. Es ist alter Zement, aber fies und alert. Er ist quicklebendig und lauert uns auf, rutscht uns grau und stumm entgegen, schneller als wir zucken und weglaufen können. Zement kann fließen, und er rinnt dann schneller als Wasser, und flacher. Man kann erfasst werden vom Zement und ertrinken.
Ich wurde zementkrank. Wochenlang habe ich überall Zement gesehen: Der klare Himmel war glattgestrichener Zement, der bewölkte Himmel voller Zementhaufen. Der Regen knüpfte vom Himmel auf die Erde seine Schnüre aus Zement. Mein graugesprenkelter Blechnapf war aus Zement. Die Wachhunde trugen ein Fell aus Zement, auch die Ratten im Küchenabfall hinter der Kantine. Die Blindschleichen krochen zwischen den Baracken in einem Strumpf aus Zement. Die Maulbeerbäume, eingesponnen mit Raupennestern, Trichter aus Seide und Zement. Ich wollte sie mir, wenn die Sonne grell schien, von den Augen wischen, aber da waren sie nicht. Und auf dem Appellplatz am Brunnenrand saß abends ein Vogel aus Zement. Sein Gesang war kratzig, ein Lied aus Zement. Der Advokat Paul Gast kannte den Vogel von zu Hause, eine Kalanderlerche. Ich fragte: Ist sie bei uns auch aus Zement. Er zögerte, bevor er sagte: Bei uns kommt sie aus dem Süden.
Das andere fragte ich ihn nicht, weil man es in den Dienststuben auf den Bildern sah und aus dem Lautsprecher hörte: Stalins Backenknochen und seine Stimme waren aus Gusseisen, sein Schnurrbart jedoch aus purem Zement.
Im Lager war man immer dreckig von jeder Arbeit. Doch kein Dreck war so zudringlich wie der Zement. Zement ist unausweichlich wie der Staub der Erde, man sieht nicht, woher er kommt, denn er ist schon da. Außer dem Hunger ist im Kopf des Menschen nur das Heimweh so schnell wie der Zement. Und es stiehlt einen auch so, und man kann darin auch so ertrinken. Mir scheint, nur eins ist im Kopf des Menschen noch schneller als der Zement – die Angst. Und nur so kann ich mir erklären, dass ich schon im Frühsommerauf der Baustelle heimlich auf ein Stück von dem dünnen braunen Zementsackpapier notieren musste:
SONNE HOCH IM SCHLEIER
GELBER MAIS, KEINE ZEIT
Mehr schrieb ich nicht, denn Zement muss man sparen. Im Grunde wollte ich etwas ganz anderes notieren:
Tief und schief und rötlich lauernd
steht der halbe Mond am Himmel
schon im Untergehen
Das habe ich mir dann geschenkt, ich hab es mir still in den Mund gesagt. Es ist gleich zerbrochen, in den Zähnen hat mir der Zement geknirscht. Dann habe ich geschwiegen.
Auch Papier muss man sparen. Und gut verstecken. Wer mit beschriebenem Papier erwischt wird, kommt in den Karzer – ein Betonschacht, elf Stufen unter der Erde, so eng, dass man nur stehen kann. Stinkig von Exkrementen und voll mit Ungeziefer. Oben zugesperrt mit einem
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