Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Asylon

Asylon

Titel: Asylon
Autoren: Thomas Elbel
Vom Netzwerk:
auf der anderen Seite
die nüchterne Sachlichkeit der Schwester.
    »Bitte warten Sie!«, rief er
endlich.
    Die Schwester hielt in der
Bewegung inne und sah ihn mit überraschtem Gesichtsausdruck an. »Was ist?
Übernehmen Sie vielleicht die Verantwortung, wenn sie sich in ihrem Zustand
etwas antut?«
    Torn rang um Worte. Wie konnte,
wie sollte er …?
    Verächtlich schüttelte die
Schwester den Kopf. »Hätte ich auch nicht gedacht«, murmelte sie im Tonfall
spöttischer Zufriedenheit.
    Torn mied Yvettes Blick, als sich
die Nadel in die bleiche Beuge ihres Armes senkte.

    Es war die lange Haarsträhne,
die Saïna die Kehle zuschnürte. Blauschwarz und seidig lugte sie unter dem Tuch
hervor und weckte in ihr eine böse Vorahnung. Sie verließ den Weg, der zu den
Pausenräumen des technischen Personals in eine höhere Ebene führte, und folgte
stattdessen dem Wagen, den ein Assistenzarzt in Richtung Pathologie schob. Der
Körper unter dem Tuch schien fürchterlich zugerichtet, die Gliedmaßen waren
kaum an den richtigen Stellen. Saïna schluckte schwer. Mühsam unterdrückte sie
den fast unwiderstehlichen Impuls, an dem Mann vorbeizustürmen und das Tuch
wegzureißen, um sich Gewissheit zu verschaffen. Stattdessen zwang sie sich, ihm
in gebührendem Abstand zu folgen. Seit sie vor einigen Monaten einen
handgreiflichen Annäherungsversuch des Chefarztes ebenso handgreiflich abgewiesen
hatte und nur knapp einer Kündigung entgangen war, konnte sie sich kein
weiteres Aufsehen erlauben.
    Schließlich verschwand der Mann
mit dem Wagen durch die Flügeltüren des Raums, in dem die Toten für die Kremierung
aufbewahrt wurden. Saïna versteckte sich hinter einem schartigen Betonpfeiler.
Dort wartete sie, bis er den Raum wieder verlassen hatte und verschwunden war.
    Sie trat an die Tür.
Abgeschlossen. Der Arzt hielt sich, anders als die meisten im St. Niclas,
offenbar an die Vorschriften.
    Misstrauisch sah sich Saïna um.
Niemand zu sehen. Sie zog ihren schweren Hausmeisterbund aus der Beintasche und
suchte nach dem richtigen Schlüssel.
    Ein Rascheln.
    Über ihr!
    Unwillkürlich zog sie den Kopf
zwischen die Schultern.
    Doch es war nur eine Ratte auf
ihrem Weg über die Versorgungsleitungen, die sich wie ein endloses Bündel metallische
Würmer durch alle Gänge der Stadt schlängelten. Noch einmal sah sie hektisch
nach links und rechts in den Korridor, bevor sie den Schlüssel langsam in den
Zylinder schob. Sie drehte ihn vorsichtig herum und zog einen der Türflügel
auf.
    Dunkelheit.
    Ein atemberaubender Schwall
irgendeines Konservierungsmittels dampfte ihr entgegen und verbreitete seinen
ätzenden Gestank. Saïna unterdrückte einen Anflug von Übelkeit, während ihre
Finger im Halbdunkel nach dem Lichtschalter tasteten. Zögerlich sprangen die
Deckenleuchten an und tauchten den Raum in grünliches Licht.
    Sie hatte diesen Raum schon oft
betreten, sei es, um eine Lichtröhre auszuwechseln, oder um eine marode Leitung
zu flicken. Doch dabei war sie entsprechend einer strikt einzuhaltenden
Hausregel immer in Begleitung eines Pflegers gewesen. Diesmal erfüllte sie die
Präsenz der Toten, auch wenn sie unter den Laken nur als anonyme Formen zu
erahnen waren, mit ehrfürchtiger Beklommenheit. Ein träge rumpelndes
Kühlaggregat hauchte in unregelmäßigen Abständen Wehen trockener Kälte durch
den Raum. Sie zog die Tür hinter sich zu und schlich mit zögerlichen Schritten
unbehaglich die Reihen der Wagen entlang.
    Eine unerwartete Berührung
entlockte ihr einen kurzen Schrei. Doch es war nur die unter dem Laken
hervorragende Hand eines Toten, die sie beim Vorbeigehen mit dem Bein gestreift
hatte.
    Bleib auf dem
Teppich, altes Mädchen. Die können dir nichts mehr tun.
    Der Raum war kleiner als
erwartet, die Wände schief, wie überall im Krankenhaus. Rechts vor ihr klaffte
in einer davon ein dunkles Loch, das wer weiß wohin führte. Oft befanden sich
zwischen den Wänden benachbarter Gebäude nur Hohlräume, sogenannte Voids, die
sich meist über viele Stockwerke ausdehnten, manchmal bis an die ferne
Oberfläche der Stadt. Es hieß, dass diejenigen, die sich nicht einmal mehr die
dunklen Löcher tief in den untersten Ebenen leisten konnten, in diesen
verlorenen Vertikalen ihr Dasein fristeten.
    Bald hatte sie gefunden, wonach
sie suchte, ganz in einer hinteren Ecke des Raumes, wo einer der gewaltigen
Schächte des Kühlaggregats aus dem Boden wuchs. Dort stand die Bahre,
eingezwängt zwischen zwei anderen.
    Jeden Gedanken
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher