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Asylon

Asylon

Titel: Asylon
Autoren: Thomas Elbel
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Beruhigungsmittel, das man ihr verabreicht hatte. Strähnen ihres Haars
klebten ihr auf der feuchten Stirn. Sie schien Torn kaum mehr ein Schatten
ihrer selbst. »Unser Kind. Sie haben es mir weggenommen.«
    Sie begann unkontrolliert zu
schluchzen. Torn ergriff ihre Hand. Sie fühlte sich schwitzig und zugleich seltsam
kühl an. Er mühte sich, ihren murmelnd vorgetragenen Klagen einen Sinn zu
geben. »Wie meinst du das?«
    Für einen Moment wurde ihr Blick
so intensiv, dass Torn darunter unwillkürlich zusammenzuckte. »Sie haben ihn
mir gestohlen. Gleich nach der Geburt. Ich habe gesehen, wie sie ihn
weggebracht haben.«
    Torn seufzte tief. Offensichtlich
hatte das Sedativum nicht nur beruhigende Wirkung. Er fragte sich, ob es
vielleicht besser war, ihr die Flucht in diese Lüge zu erlauben, die
wahrscheinlich leichter zu ertragen war als die profane Grausamkeit der
Realität, und sei es nur für diesen Moment. Aber dann verscheuchte er den Gedanken.
Die Frau, die er geheiratet hatte, war stark. Besser, sie mit der Wirklichkeit
zu konfrontieren, so brutal diese auch war, als sie durch solch ein Narrenspiel
zu entwürdigen.
    »Unser Kind ist tot, Yvette. Der
Arzt hat es mir berichtet. Es ist tot zur Welt gekommen.«
    Es tat gut, die Wahrheit selber
auszusprechen. Das erste Mal, seit er selbst davon erfahren hatte, fühlte er,
dass er es wirklich begriff.
    Yvettes schrille Entgegnung riss
ihn schroff aus seinen Gedanken. »Das ist eine Lüge !«
    Unvermittelt hatte sie sich
aufgerichtet. Im wirren Kranz ihrer kurzen hellen Haare, die tiefblauen Augen
brennend vor Zorn, sah sie wie ein Racheengel aus.
    »Ich habe ihn gesehen!«, schrie
sie mit einer Stimme, wie Torn sie noch nie gehört hatte. »Ich habe ihn atmen
gehört! Sie haben mich betäubt, haben ihn aus mir rausgeschnittten! Und dann
haben sie ihn mir weggenommen!«
    Ihr ganzer Körper zitterte.
Speichel rann aus ihren Mundwinkeln und tropfte auf den weißen Kittel. Torn war
von ihrem Ausbruch so entsetzt, dass er nicht wusste, was er sagen sollte.
    Ein Rascheln hinter ihm ließ ihn
herumfahren. Durch die Vorhänge schob sich eine plump wirkende Schwester. Mit
herrischem Gesichtsausdruck stemmte sie die Hände in die Hüften. »Was herrscht
denn hier für ein Lärm?«
    Torn sah, wie jegliche Farbe aus
dem Gesicht seiner Frau wich. Sie streckte den Finger in Richtung der Schwester
aus. » Sie waren es! Sie haben mir mein Kind genommen!«
    Die Schwester ließ einen
theatralisch lauten Seufzer hören. Yvettes Vorwurf schien sie nicht im
Mindesten zu überraschen. Sie stampfte zur gegenüberliegenden Seite des Betts
und versuchte Yvettes Arm zu ergreifen, die sofort begann, wild um sich zu
schlagen. Krachend fiel eine leere Vase zu Boden, die bis dahin auf dem Beistellschränkchen
gestanden hatte, und zerbrach.
    »Nun helfen Sie mir schon!«,
herrschte die Schwester ihn an. Ihr Gesicht war violett angelaufen.
    Torn verharrte unschlüssig neben
Yvette, die sich immer noch mit aller Macht gegen den Zugriff der Schwester
wehrte.
    »So halten Sie sie doch endlich
fest! Sie ist ja völlig außer sich!«, schrie die Schwester.
    Widerstrebend ergriff er einen
von Yvettes Armen und drückte seine sich immer noch heftig wehrende Frau so
sanft es ging auf das Bett. Auf der anderen Seite hatte die Schwester Yvettes
Handgelenk bereits mit einer Schlaufe fixiert. Sie kam herüber zu Torn, schob
ihn ungeduldig beiseite und fixierte auch den zweiten Arm. Yvette bäumte sich
in ihren Fesseln auf, schrie und wütete wie ein wildes Tier, während die
Schwester in aller Ruhe eine kleine Ampulle mit einer trüben Flüssigkeit und
eine Spritze aus der Tasche ihrer Tracht zauberte. Mit fachmännischem Eifer zog
sie die Spritze auf.
    »Halt mir diese Hexe vom Leib!«,
schrie Yvette.
    Torn war fassungslos. Er erkannte
seine hysterisch kreischende Frau kaum wieder. Noch nie hatte er sie so erlebt.
Konnte es sein, dass sie recht hatte, oder waren es nur die Drogen und das
Trauma, die die Realität für sie verdrehten?
    Er konnte ihre Verzweiflung nicht
einfach ignorieren.
    »Was ist das?«, fragte er die
Schwester.
    »Ein Beruhigungsmittel«, beschied
sie ihn knapp, während sie bereits Yvettes Armbeuge mit einem Alkoholtupfer
desinfizierte.
    »Lass das nicht zu! Bitte, Torn!
Ich flehe dich an!«, bettelte Yvette, deren Raserei in Verzweiflung überging.
Die Nadel näherte sich bereits ihrer Armbeuge. Torn war hin und her gerissen.
Auf der einen Seite die Frau, die er über alles liebte,
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