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Ascheträume

Ascheträume

Titel: Ascheträume
Autoren: Maurizio Temporin
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Leibeskräften.
    Der Aschewirbel riss mir den Schrei vom Mund, er schwirrte umher und breitete sich in alle Richtungen und alle Gebiete des Cinerariums aus. Er löste sich auf in tausend Klagen, wie sich auch mein unruhiger Schlaf auflöste.
    Ich schlug die Augen nicht auf.
    Das erschien mir in diesem Moment unmöglich. Egal, was ich vor mir sähe, es wäre schlimmer als die verlorene Hoffnung. Ich wusste nicht, wie ich auf diesen Schmerz reagieren würde. Wir würden sterben, ohne uns voneinander verabschieden zu können. Der Trost einer Existenz im Cinerarium war für uns sicher nicht vorgesehen. Ludkar würde uns niedermetzeln und unser Blut ausspucken, anstatt sich einen einzigen Schluck einzuverleiben und zu wissen, dass wir so weiterleben würden.
    Leb wohl, Vater. Ich hätte dich gern noch einmal im Arm gehalten.
    Leb wohl, Mutter. Ich hätte dich gern besser verstanden.
    Lebt wohl, meine Freunde. Vergebt mir, was ich euch angetan habe.
    Leb wohl, Liebster. Ich sage Lebwohl zu deinen Augen und zu deinem Herzen, das nun bald erlöschen wird. Denk an mich, wenn du kannst, denn du wirst mich nie mehr wiedersehen. Selbst wenn du kommen und mich in dieser Welt suchen solltest, wirst du nur einen Grabstein finden – vielleicht, wenn sie meine Leiche finden und herausfinden, wer ich war. Ich wäre glücklich, wenn sie mich neben dir begraben würden. Und, wer weiß?, vielleicht bepflanzen sie mein Grab ja mit Iris. Ich küsse dich mit dem Hauch meiner Vorstellungskraft und streichle dich mit meinem allerletzten Seufzer.
    Ich schlug die Lider auf, ich war bereit, meinem Henker ins Gesicht zu sehen, aber nicht einmal diese Befriedigung schenkte er mir.
    Ludkar stand vor mir, mit gebeugtem Kopf, hängenden Schultern, die Haare im Gesicht.
    Ich drehte mich nach meinem Vater und nach meinen Freunden um. Kolor hatte sich mit ausgebreiteten Armen vor die beiden gestellt. Er sah mich ernst an, ohne jeden Vorwurf. Die Schuld war beiderseitig. Was für ein Irrsinn! Was für ein Irrsinn, zu glauben, es könnte uns gelingen, Ludkar zu stoppen! Leonard hatte einen leeren Blick. Er fühlte sich schuldiger als alle anderen für das, was uns erwartete, was die Welt erwartete. Ich konnte ihm nicht einmal erklären, dass das nicht stimmte. Er würde in Reue sterben. Christine hingegen stand da wie eine Statue, erhaben in ihrem Mut. Ihr Gesicht war hart, wie in der Schule, wenn sie verhindern wollte, dass man sie anmachte. Und ich? Was für ein Gesicht machte ich?, fragte ich mich. Und dachte: Es reicht.
    Schluss mit den Spielchen, dem schizophrenen Verhalten, der seelischen Grausamkeit. Wenn er es tun musste, dann sollte er es eben tun und Schluss. Mein Vater war zu schwach und zu erschöpft, um in irgendeiner Form einzugreifen, er konnte uns nicht retten.
    Ich stand auf und beschloss, dass, wenn es schon so enden musste, ich diejenige sein wollte, die diese Entscheidung traf. Ich!
    Ich ließ meinen Körper von der Wut antreiben. Zuerst machte ich ein paar wacklige Schritte, dann richtete ich mich ganz auf und zeigte ein Gesicht, das ich gar nicht an mir kannte. Meine violetten Augen funkelten wie Amethyste, sie glänzten und glitzerten. Weit offen, inquisitorisch. Dann übernahm ich die volle Kontrolle über die Lage. Ich schrie und rannte auf Ludkar zu. Ich würde ihn treffen, bevor ich noch spürte, wie mir die Kehle aufgerissen wurde, ich würde meine Faust voll in sein Gesicht rammen.
    Als ich schon fast bei ihm war, hob er den Kopf und begegnete meinem Blick.
    Ich blieb abrupt stehen.
    Er hatte den Mund nicht aufgerissen, um meinen Arm zu verschlingen. Er sah mich einfach nur an. Mit diesen Augen …
    Augen, die nicht die seinen waren.
    Sie schimmerten in allen Farben.
    Ich spürte meine Beine zittern. Meine Haut gefror, als hätte mich der Winter mit voller Wucht getroffen.
    Langsam bewegten sich meine Lippen, ich kniff die Augen zusammen, um mich zu vergewissern, dass ich nicht übergeschnappt war, und sagte ganz vorsichtig: »Nate?«
    Derjenige, den ich vor einem Augenblick noch für Ludkar gehalten hatte, lächelte mich an.
    »Ja, ich bin’s«, sagte die Stimme, die ich kannte und liebte.
    Nate.
    Es war Nate!
    In diesem Moment trat für mich erneut das Leben in die Welt. Die Wolken hatten wieder das Recht, über unsere Wiesen zu ziehen, und die Sonne durfte uns wieder einen Weg weisen.
    Etwas rann mir über die Wangen. Ich hatte nicht einmal bemerkt, dass ich angefangen hatte zu weinen. Ich war außer mir vor Freude. Und
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