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Ascheträume

Ascheträume

Titel: Ascheträume
Autoren: Maurizio Temporin
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Brocken von Säulen, Bäume, Autos und andere Teile über uns hinweg, die irgendwo in der Großen Aschewüste ausgerissen worden waren.
    Der Junge mit den Regenbogenaugen machte mir ein Zeichen, ihm zu folgen. Wir mussten uns bis hinauf auf den Gipfel der Düne schleppen, um weiterzukommen, sonst wären auch wir in diesen irrsinnigen Reigen geraten. Ich wusste nicht, warum Nate immer weiter wollte, wir machten unsere Situation nur noch schlimmer, aber ich folgte ihm wie einer Fata Morgana. Vielleicht war nun der Moment gekommen zu beten, auch wenn ich keinen Gott kannte, der sich ein solches Schreckensszenario hätte ausdenken können.
    Oben auf dem Dünenkamm sahen wir ihn. Hinter dem wirbelnden, tosenden Leichentuch, hinter dem ohne jede Kontrolle umherschwirrenden Grauen, da stand Ludkar. Im Auge des Sturms. Man sah ihn kaum. Sein Arm steckte im violetten Feuer, sein Haar und seine Kleider zuckten wild, als würde er elektrische Schläge bekommen.
    Auch wenn wir ihn nicht richtig erkennen konnten, schien es, als würde der Vampir den Kopf nach uns drehen. Ja, er hatte uns gesehen und schrie so sehr, dass wir ihn hören konnten, auch wenn die Laute in verzerrten Wellen zu uns drangen: »Das … wa… kna-app … Denk a… den Ko-opf dein… Freundes.«
    In diesem Moment hoben sich Ludkars Füße vom Boden. Das war der Anfang vom Ende, es waren die ersten Schritte in den Abgrund, hin zu einer nie gekannten Katastrophe. Mit Genugtuung warf er den Kopf nach hinten. Er erhob sich in die Lüfte. Er war auf dem Weg in die Welt.
    Gleichzeitig brach mein Vater in der Grotte einen Schwur, den er siebzehn endlos lange Jahre unerschütterlich gehalten hatte. Aus Liebe zu seiner Tochter hob er den Körper des Bösen vom Stalagmit.
    Während er ihn hielt und Ludkars Fleisch auferstand, weinte er und schüttelte langsam den Kopf.
    Er beging die größte Sünde, die er sich je hatte vorstellen können. Ich war der Grund dafür, dass sein schlimmster Albtraum wahr wurde.
    Ludkars Hülle wurde nun ganz befreit, und mein Vater ließ den toten Körper fallen, der darauf wartete, wieder belebt zu werden.
    »Aaah! Endlich wieder frei! Tod, Krieg, Pestilenz und Hunger! Auf geht’s im Galopp!«, schrie Ludkar aus dem Cinerarium. Er zog seine Hand aus der Flamme und breitete die Arme aus.
    Mir stockte das Blut in den Adern, ich spürte den Sand in mir brodeln. Es gab keine Hoffnung mehr. Gegen das Lachen des Kannibalen gab es kein Gegenmittel.
    Plötzlich stand Nate auf, kämpfte eine Weile gegen den Sturm an, nahm Schwung und sprang.
    »Nein, Nate!«, schrie ich und streckte eine Hand aus, um ihn festzuhalten, aber seine Hose glitt mir aus den Händen.
    Ich sah, wie er von der wilden Staubbestie eingesogen wurde und in einen Wahnsinn ohne Wiederkehr zwischen Trümmern und Schutt durch die Luft flog. Nate war in den Tornado geraten und wirbelte umher wie eine Fliege, der man die Flügel ausgerissen hatte, umgeben von den Teilen einer Welt, die in Stücke zerfallen war.
    Ludkar lachte noch immer und flog höher in den dunklen Strudel hinein, seine schwarzen Haare und sein Mantel flatterten wild. Nate bahnte sich einen Weg durch die Böen dieser verdammten Luft, er schwamm und ruderte wie ein Ertrinkender, während er keuchend versuchte, zu dem Vampir aufzusteigen. Er schrie, er biss die Zähne zusammen, er streckte mit aller Kraft die Hand aus – und hatte es geschafft! Er hatte Ludkars nackte Füße gepackt.
    Der Vampir blickte erschrocken an sich hinunter. Entstellt, erstarrt, panisch.
    »Ich kann es nicht ertragen, wenn man mich kitzelt!«, schrie er und versetzte Nate einen Tritt ins Gesicht.
    Nate ließ nicht locker.
    Ich hatte den Blick starr nach oben gerichtet und betete um Gerechtigkeit, wenigstens in diesen wenigen Augenblicken, in denen Nate und Ludkar hin und her schaukelten und immer weiter aufstiegen. Sie flogen auf das schwarze Loch des Himmels zu. Zum Mond der Finsternis.
    Sie würden hindurchfliegen.
    Ich hatte keine Ahnung, was nun passieren würde. Sie waren nur noch kleine Punkte in schwindelerregender Höhe, ich konnte nichts sehen. Ich konnte die beiden Körper nicht mehr erkennen, ich ahnte nur, dass dort ein heftiger Kampf tobte, dessen Ausgang das Leben von uns allen bestimmen würde.
    Um das Chaos perfekt zu machen, traf ein Fels, ein Baumstamm oder ein Pilaster, der im Tornado umherflog, eine der beiden Gestalten. Er riss sie mit sich und schleuderte sie weit fort.
    »Nate!«, schrie ich aus
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