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Ascheherz

Ascheherz

Titel: Ascheherz
Autoren: Nina Blazon
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Asphalt gegraben hatten.
    »Ich habe mich immer gefragt, was du gegen Schuhe hast«, flüsterte Finn ihr zu. »Ist es auf den Inseln üblich, barfuß zu gehen?«
    »Auf meiner Insel schon. Meine Mutter sagte immer, wer sich in Schuhe zwängen lässt, dem kann man auch einen Maulkorb umbinden, ohne dass er sich beschwert.«
    »Das erklärt jedenfalls deine scharfe Zunge. Von welcher Insel stammst du genau?«
    »Tuvaló. Die südliche Ecke. Bator Sel fährt den Hafen an und kauft dort den roten Bernstein für die Schmuckmacher.«
    »Roter Bernstein.« Sein Tonfall bekam etwas Versonnenes. »Ein bisschen wie dein Haar, aber deine Augen erinnern eher an Rauchquarz.«
    »Das Haar von meiner Mutter, die Augen von meinem Vater, dem Fischhändler.« Obwohl der Wein ihre Gedanken schwer und wolkig werden ließ, musste sie keine Sekunde über die richtigen Antworten nachdenken. So betrunken konnte sie überhaupt nicht sein, dass sie die Details ihrer eigenen Lügen vergaß. Viel zu sehr wünschte sie sich, sie wären wahr.
    »Wirklich? Dein Vater ist nur ein einfacher Fischverkäufer? Und ich hätte schwören können, du stammst aus einer reichen Familie.«
    »Wie kommst du denn darauf?«
    Aus den Augenwinkeln erahnte sie ein schattiges Schulterzucken. »Naja, du hast manchmal eine etwas … direkte Art, mit Leuten zu reden. So, als seist du gewohnt zu befehlen. Außerdem: Es gibt wenige Menschen, die stolz darauf sind, Schauspieler zu sein, so wie du. Die, die es aus Armut werden müssen, beschweren sich darüber. Nur diejenigen, die sich aus freien Stücken dafür entscheiden,
lieben es. Und die kommen normalerweise aus reichem Haus und denken, sie hätten nun die Freiheit gefunden.«
    Summer lächelte. Es war das einfachste Spiel, die Bilder zu nehmen, die ihr Gegenüber ihr anbot, und daraus ein Ich zu formen.
    »Wer sagt, dass Fischverkäufer arm sein müssen?«, flüsterte sie. »Meine Eltern beschäftigen in der Fischhalle dreißig Arbeiter.«
    »Dann habe ich also recht und du bist ein reiches Mädchen?«
    »Zumindest war ich es. Geboren in einem Marmorhaus. Ich hätte das Leben einer Vorstadtprinzessin führen können, aber ich liebte schon als Kind das Theater. Also ging ich nach Kanduran, obwohl meine Familie dagegen war.«
    Die Gestalt, die sie da beschrieb, schien im Gleichtakt mit ihr den Weg entlangzugehen, in Gesellschaft der vielen anderen Mädchen, die sie ebenfalls schon gewesen war. Nur schemenhaft und kaum vorhanden erkannte sie inmitten dieser Fantasiegeschöpfe sich selbst: die Unbekannte, die ihr völlig fremd war. Blutend, mit Schürfwunden und leerem Blick, mit dieser Furcht im Herzen, die sie von Stadt zu Stadt trieb.
    »Wie alt warst du, als du Tuvaló verlassen hast?«, wollte Finn nun wissen.
    Summer verlangsamte ihre Schritte. Wenn es um Zahlen ging, hieß es, vorsichtig zu sein. »Warum willst du das wissen?«
    »Mort hat dir tatsächlich abgekauft, dass du fünfundzwanzig bist. Aber ich …«
    »So! Du hältst mich also für eine Lügnerin?«
    »Psst! Willst du das Ungeziefer anlocken? Nein, aber du bist jemand, der sehr genau weiß, was er will und wie er es bekommt. Das gefällt mir ja so an dir.«
    Summer zuckte mit den Schultern. »Mort wollte eine Schauspielerin
in Mias Alter. Und ich wollte die Rolle unbedingt haben. Was hättest du getan?«
    Finns Hand schmiegte sich fester um ihre, so als hätten sie eben einen Pakt geschlossen. Auch das war etwas, was sie immer wieder von Neuem erstaunte: Dass manchmal das Geständnis einer Lüge besser dazu diente, ihre Glaubwürdigkeit zu untermauern, als wenn sie empört auf ihrer Version bestanden hätte.
    »Und … wie alt bist du wirklich?«, fragte er nach einer Weile.
    Ein Jahr und vier Monate, Finn. Fünf- hundertelf Tage Katzenleben.
    »Siebzehn«, antwortete sie. Und vielleicht stimmte das sogar?
    »Ja, das passt besser zu dir«, erwiderte er mit einem Lächeln in der Stimme. »Ein Jahr jünger als ich, und ich bin schon sehr früh zur Bühne gegangen. Na ja, meine Familie war so arm, dass sie mich sobald wie möglich wegschicken musste …«
    Mit der bedeutungsvollen Pause, die nun folgte, öffnete er ihr die Tür zu seinem Leben. Natürlich erwartete er, dass sie über die Schwelle trat und sich umsah, doch Summer biss sich auf die Unterlippe und schwieg. Jede Frage und jede Antwort schufen ein neues Band und eine Zukunft, die es nicht geben würde. Schon jetzt zählte sie die Schritte, die ihnen noch blieben, bevor sie allein weitergehen
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