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Arm und Reich

Arm und Reich

Titel: Arm und Reich
Autoren: Jared Diamond
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um eigentliche Ursachen. Warum blühte nicht der Kapitalismus im Mexiko der Azteken, der Merkantilismus in Afrika südlich der Sahara, der Wissenschaftsgeist in China, die Technik im indianischen Nordamerika und bösartige Krankheitserreger im Australien der Aborigines? Wer zur Erwiderung auf spezifische kulturelle Verhältnisse verweist – etwa darauf, daß der Geist der Wissenschaft in China durch den Konfuzianismus erstickt wurde, im westlichen Eurasien dagegen in griechischen beziehungsweise jüdisch­christlichen Traditionen einen fruchtbaren Nährboden fand –, ignoriert nur einmal mehr die Notwendigkeit echter, tiefergehender Erklärungen: Warum entwickelte sich der Konfuzianismus nicht im westlichen Eurasien und die jüdisch­christliche Ethik in China? Er übersieht außerdem, daß das konfuzianistische China bis etwa 1400 n. Chr. in der technischen Entwicklung weiter war als die Gesellschaften des westlichen Eurasien.
    Selbst wenn man sich damit begnügen will, die westeurasischen Gesellschaften zu verstehen, reicht es nicht aus, den Blick nur auf sie zu richten. Die interessanten Fragen sind nämlich die nach den Unter schieden zwischen ihnen und anderen Kulturen. Zu ihrer Beantwortung müssen wir auch alle anderen Gesellschaften verstehen, um die des westlichen Eurasien in einem weiteren Kontext sehen zu können.
    Vielleicht haben einige Leser nun den Eindruck, ich würde, verglichen mit der herkömmlichen Geschichtsschreibung, ins entgegengesetzte Extrem verfallen, indem ich dem westlichen Eurasien zugunsten anderer Teile der Welt zuwenig Platz einräume. Darauf möchte ich entgegnen, daß einige dieser Regionen sehr aufschlußreich sind, weil sie auf kleinem Raum eine Vielzahl höchst unterschiedlicher Kulturen beherbergen. Andere Leser werden vielleicht die Ansicht teilen, die ein Rezensent der amerikanischen Ausgabe dieses Buches äußerte. Mit leicht kritischem Unterton bemerkte er, für mich sei die Weltgeschichte offenbar wie eine Zwiebel, deren äußerste Schale die moderne Welt verkörpere und deren innere Schichten es auf der Suche nach Antworten eine nach der anderen abzutragen gelte. Wie recht er hat! Die Weltgeschichte gleicht in der Tat einer Zwiebel. Sie Schicht um Schicht zu schälen ist nicht nur ungemein spannend, sondern obendrein von ungeheurer Bedeutung, wenn wir unsere Vergangenheit verstehen und daraus Lehren für die Zukunft ziehen wollen.

Prolog
Yalis Frage
Der unterschiedliche Lauf der Geschichte in den verschiedenen Teilen der Welt
    J eder weiß, daß die Geschichte für verschiedene Völker in verschiedenen Teilen der Erde einen höchst unterschiedlichen Lauf nahm. In den 13 000 Jahren, die seit dem Ende der letzten Eiszeit vergangen sind, entstanden in einigen Teilen der Welt Industriegesellschaften mit Metallwerkzeugen und Schrift, in anderen dagegen nur schriftlose bäuerliche Gesellschaften, während die Bewohner wie der anderer Regionen Jäger und Sammler blieben und mit Steinwerkzeugen vorliebnahmen. Diese historischen Ungleichheiten warfen lange Schatten auf die moderne Welt, da diejenigen Gesellschaften, die in den Besitz von Schrift und Metallwerkzeugen gelangt waren, jene anderen Gesellschaften unterwarfen oder gar auslöschten. Obwohl man diese Unterschiede als grundlegendste Tatsache der Weltgeschichte bezeichnen könnte, sind die Gründe, die für sie genannt werden, nach wie vor vage und umstritten. Vor 25 Jahren wurde ich in sehr persönlicher Form mit diesem Thema konfrontiert.
    Im Juli 1972 unternahm ich eine Strandwanderung auf der Tropeninsel Neuguinea, wo ich als Biologe Untersuchungen zur Evolution der Vögel anstellte. Mir war bereits von einem charismatischen örtlichen Politiker namens Yali berichtet worden, der sich zur gleichen Zeit auf einer Rundreise durch das Gebiet befand. Zufällig hatte Yali an jenem Tag dasselbe Ziel wie ich und holte mich beim Wandern ein. Wir gingen eine Stunde nebeneinander am Strand entlang und unterhielten uns die ganze Zeit.
    Yali war ein Mann mit Ausstrahlung, dessen Augen vor Energie blitzten. Er erzählte sehr selbstbewußt von sich, stellte aber auch viele bohrende Fragen und lauschte gespannt meinen Antworten. Unsere Unterhaltung begann mit einem Thema, das damals alle Bewohner Neuguineas beschäftigte, nämlich dem raschen Tempo des politischen Wandels. Papua-Neuguinea, wie Yalis Heimatland inzwischen heißt, befand sich zu jener Zeit noch als UNO-Mandatsgebiet unter australischer Verwaltung, aber die
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