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Arm und Reich

Arm und Reich

Titel: Arm und Reich
Autoren: Jared Diamond
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Unabhängigkeit lag schon in der Luft. Yali erläuterte mir, welche Rolle er persönlich bei der Vorbereitung seines Volkes auf die Selbstverwaltung spielte.
    Nach einiger Zeit drehte er den Spieß um und fing an, nun mich auszufragen. Er hatte Neuguinea noch nie verlassen und besaß keine höhere Bildung, doch seine Neugier war unersättlich. Zuerst mußte ich ihm über meine ornithologische Arbeit in Neuguinea berichten (und auch darüber, wieviel ich dafür bezahlt bekam). Ich erklärte ihm, wie verschiedene Vogelgattungen Neuguinea im Laufe der Jahrmillionen besiedelt hatten. Als nächstes wollte Yali wissen, wie die Ahnen seines eigenen Volkes innerhalb der letzten Jahrzehntausende nach Neuguinea gekommen waren und wie die weißen Europäer Neuguinea in den letzten 200 Jahren kolonisiert hatten.
    Der Ton der Unterhaltung blieb freundlich, wenngleich die Spannungen zwischen den beiden Gesellschaften, die Yali und ich repräsentierten, ihm und mir wohlbekannt waren. Vor 200 Jahren lebten alle Bewohner Neuguineas noch »in der Steinzeit«, was heißen soll, daß sie noch ähnliche Steinwerkzeuge wie die verwendeten, die in Europa schon vor mehreren tausend Jahren durch Werkzeuge aus Metall ersetzt worden waren, und daß sie in Dörfern lebten, die nicht unter einer zentralen politischen Instanz vereint waren. Als die Weißen kamen, brachten sie die zentralistische Regierungsform mit sich. Weitere Mitbringsel waren diverse materielle Güter, deren Nutzen den Bewohnern Neuguineas sofort einleuchtete, wie Stahläxte, Streichhölzer und Medikamente bis hin zu Kleidung, Erfrischungsgetränken und Regenschirmen. In Neuguinea wurden all diese Güter zusammenfassend als »Cargo« (Fracht) bezeichnet.
    Viele der weißen Kolonialisten verachteten die Neuguineer unverhohlen als »primitive Wilde«. Selbst der Geringste unter den weißen »Masters« der Insel, wie sie sich 1972 noch nannten, genoß einen weit höheren Lebensstandard als die Neuguineer, ja sogar als charismatische Politiker wie Yali. Der aber hatte schon viele Weiße ausführlich befragt, wie er es mit mir gerade tat, und ich hatte das gleiche mit zahlreichen Neuguineern getan. Wir wußten also beide ganz genau, daß Neuguineer im Durchschnitt mindestens ebenso intelligent sind wie Europäer. An all das muß Yali gedacht haben, als er mir aus seinen funkelnden Augen einen bohrenden Blick zuwarf und fragte: »Wie kommt es, daß ihr Weißen so viel Cargo geschaffen und nach Neuguinea mitgebracht habt, wir Schwarzen aber so wenig eigene Cargo hatten?«
    Es war eine simple Frage, die aber den Kern dessen traf, was Yali bewegte. Ja, es gibt noch immer gewaltige Unterschiede zwischen der Lebensweise des durchschnittlichen Neuguineers und der des durchschnittlichen Europäers oder Amerikaners. Ebenso gewaltige Unterschiede klaffen zwischen anderen Völkern der Welt. Für diese enorme Ungleichheit muß es doch gewichtige und, so möchte man meinen, augenfällige Gründe geben.
    Bei näherer Betrachtung erweist sich Yalis zunächst so einfache Frage als ausgesprochen schwer zu beantworten. Ich wußte damals keine Antwort. Unter Historikern herrscht auch heute noch keine Übereinstimmung, und die meisten haben es aufgegeben, diese Frage überhaupt zu stellen. In den Jahren, seit Yali und ich uns am Strand begegneten, habe ich über verschiedene Aspekte der menschlichen Evolution, Geschichte und Sprache geforscht und geschrieben. Dieses Buch stellt den Versuch dar, Yalis Frage mit 25 Jahren Verspätung zu beantworten.
    Obgleich Yali seine Frage nur auf die unterschiedliche Lebensweise von Neuguineern und weißen Europäern gemünzt hatte, war mit ihr doch ein umfassenderes Phänomen der modernen Welt beispielhaft angesprochen. Völker eurasischen Ursprungs und insbesondere die heutigen Bewohner Europas und Ostasiens sowie die nach Nordamerika ausgewanderten Europäer spielen mit ihrem Reichtum und ihrer Macht eine beherrschende Rolle in der Gegenwart. Andere Völker, darunter die meisten Afrikaner, konnten zwar das Joch der europäischen Kolonialherrschaft abschütteln, aber in puncto Reichtum und Macht liegen sie noch weit zurück. Wieder andere Völker, wie die Ureinwohner Australiens, Nord- und Südamerikas und des südli­chen Afrika, sind nicht einmal mehr Herren im eigenen Land, sondern wurden von europäischen Kolonialisten dezimiert, unterjocht und in manchen Fällen sogar aus­gerottet.
    Fragen zur Ungleichheit in unserer heutigen Welt können deshalb auch so
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