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Arm und Reich

Arm und Reich

Titel: Arm und Reich
Autoren: Jared Diamond
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formuliert werden: Wie kam es dazu, daß Reichtum und Macht so verteilt sind, wie wir es in der Gegenwart erleben, und nicht anders? Wa­rum führte die Geschichte nicht dazu, daß beispiels­weise Indianer, Afrikaner und australische Aborigines Europäer und Asiaten dezimierten, unterwarfen oder ausrotteten?
    Greifen wir noch etwas weiter zurück. Als die welt­weite koloniale Expansion Europas um 1500 n. Chr. noch am Anfang stand, klafften zwischen den Bewohnern der verschiedenen Kontinente bereits gewaltige Unterschie­de im Stand der Technik und der politischen Organisa­tion. So bestanden Europa, Asien und Nordafrika zum großen Teil aus Staaten oder Reichen, deren Bewohner Metallwerkzeuge besaßen und von denen einige schon an der Schwelle zur Industrialisierung standen. Zwei in­dianische Völker, Azteken und Inkas, herrschten über Reiche mit Steinwerkzeugen. In Teilen Afrikas südlich der Sahara gab es kleinere Häuptlingsreiche mit Eisen­verarbeitung. Die meisten anderen Völker – darunter auch sämtliche Bewohner Australiens und Neuguineas, zahlreicher Pazifikinseln, eines Großteils Nord- und Südamerikas sowie kleinerer Teile Afrikas südlich der Sahara – trieben in Stammesgemeinschaften Landwirt­schaft oder durchstreiften gar ihre Heimat in kleinen Scharen als Jäger und Sammler und besaßen nur Stein­werkzeuge.
    Diese technischen und politischen Unterschiede, die schon um 1500 n. Chr. existierten, waren gewiß der un­mittelbare Grund für die Ungleichheiten in der heutigen Welt. Reiche, deren Armeen über Waffen aus Stahl ver­fügten, konnten über Stammesgesellschaften mit Waffen aus Stein und Holz herfallen und sie unterjochen oder auslöschen. Wie aber kam es, daß die Welt um 1500 n. Chr. so und nicht anders aussah?
    Wiederum können wir leicht einen Schritt weiter zu­rückgehen, indem wir uns auf geschichtliche Aufzeich­nungen und archäologische Funde stützen. Bis zum Ende der letzten Eiszeit um 11 000 v. Chr. waren die Bewohner aller Kontinente noch Jäger und Sammler. Unterschied­liche Entwicklungsgeschwindigkeiten auf den verschiede­nen Kontinenten zwischen 11 000 v. Chr. und 1500 n. Chr. führten zu den unübersehbaren technischen und politi­schen Ungleichheiten am Ende jenes Zeitraums. Wäh­rend die australischen Aborigines und viele Indianer­stämme weiter als Jäger und Sammler lebten, entwickelten sich in den meisten Gebieten Eurasiens und in großen Teilen Nord- und Südamerikas sowie Afrikas südlich der Sahara schrittweise Ackerbau, Viehzucht, Metallurgie und komplexe Formen politischer Organi­sation. In Teilen Eurasiens und in einer Region Ameri­kas wurde eigenständig die Schrift erfunden. Jede der genannten Neuerungen tauchte jedoch in Eurasien frü­her auf als anderswo. So war die Massenproduktion von Bronzewerkzeugen, die in den südamerikanischen An­den erst in den Jahrhunderten vor 1500 n. Chr. einsetzte, in Teilen Eurasiens schon über 4000 Jahre zuvor fester kultureller Bestandteil. Die Steintechnologie der Tasma­nier war noch beim ersten Zusammentreffen mit euro­päischen Entdeckungsreisenden im Jahr 1642 n. Chr. pri­mitiver als in Teilen Europas während der Jungsteinzeit, also zigtausend Jahre früher.
    Somit können wir die Frage nach den Ungleichheiten der heutigen Welt letztendlich so formulieren: Warum verlief die Entwicklung auf den verschiedenen Kontinen­ten in so unterschiedlichem Tempo? Diese Unterschiede stellen das allgemeinste Verlaufsmuster der Geschichte dar und sind Thema dieses Buchs.
    Während es hierin also letzten Endes um Geschichte und Vorgeschichte geht, ist der Gegenstand des Buchs doch keineswegs von rein akademischem Interesse, son­dern von sehr großer praktischer und politischer Be­deutung. Es waren die Begegnungen zwischen unglei­chen Völkern, oft mit der Folge von Eroberungen, ein­geschleppten Seuchen und Genozid, die unsere Welt formten. Die Folgen der Kollisionen von einst sind noch heute, viele Jahrhunderte später, zu spüren und spielen besonders in einigen der schlimmsten Krisenregionen der Welt noch immer eine wichtige Rolle.
    So macht das Erbe des Kolonialismus vielen Ländern Afrikas immer noch schwer zu schaffen. In anderen Re­gionen – beispielsweise in Mittelamerika, Mexiko, Peru, Neukaledonien, der ehemaligen Sowjetunion und Tei­len Indonesiens – kommt es immer wieder zu Unru­hen oder Rebellionen, bei denen sich Urbevölkerungen und Regierungen, die von Nachfahren fremder Erobe­rer dominiert
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