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Arm und Reich

Arm und Reich

Titel: Arm und Reich
Autoren: Jared Diamond
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eine Kehrseite haben. So genießen die Bewohner der In­dustriestaaten zwar verglichen mit Jägern und Samm­lern zweifellos eine bessere medizinische Versorgung, kommen nicht so häufig durch Totschlag ums Leben und haben eine höhere Lebenserwartung. Doch dafür können sie erheblich weniger auf die Hilfe von Freun­den und Großfamilien zählen. Mein Motiv für die Un­tersuchung der geographischen Unterschiede zwischen menschlichen Gesellschaften hat rein gar nichts damit zu tun, einen Gesellschaftstypus als den anderen überle­gen zu feiern – mir geht es ganz allein um ein Verständ­nis dessen, was in der Geschichte passierte.
    Mußte wirklich noch ein weiteres Buch geschrieben werden, um Yalis Frage zu beantworten? Kennen wir die Antwort nicht schon längst? Und wenn ja, wie lau­tet sie?
    Die am häufigsten vorgebrachte Erklärung geht mehr oder weniger explizit von biologischen Unterschieden zwischen den Völkern aus. In den Jahrhunderten nach 1500, als europäische Entdeckungsreisende Kenntnis von den großen Unterschieden zwischen den Völkern der Welt in puncto technischer und politischer Entwicklung erlangten, wurden diese als Ausdruck unterschiedlicher angeborener Fähigkeiten interpretiert. Mit dem Sieges­zug der Darwinschen Lehre wurde die Erklärung dahin­gehend abgewandelt, daß nun natürliche Selektion und Evolution in den Vordergrund gestellt wurden. Dem­nach wurden Völker, die auf technisch niedriger Stufe standen, als evolutionäre Überbleibsel der menschlichen Abstammung von affenähnlichen Vorfahren betrachtet. Die Verdrängung dieser Völker durch Kolonisten aus in­dustrialisierten Gesellschaften wurde gar als Beispiel für das Überleben des Stärkeren angeführt. Mit dem späte­ren Aufkommen der Genetik wurde die Erklärung er­neut revidiert. Fortan galten Europäer als genetisch in­telligenter als Afrikaner und insbesondere australische Aborigines.
    Heute wird Rassismus in der westlichen Gesellschaft von breiten Schichten der Bevölkerung nach außen hin abgelehnt. Insgeheim oder unbewußt hegen jedoch im­mer noch viele Menschen (vielleicht sogar die meisten!) rassistische Vorstellungen. In Japan und vielen anderen Ländern werden diese sogar öffentlich und ohne jeden Versuch der Rechtfertigung vorgebracht. Selbst gebildete weiße Amerikaner, Europäer und Australier erkennen, wenn die Sprache auf australische Aborigines kommt, etwas Primitives an diesen. Sehen sie nicht völlig anders aus als Weiße? Viele der heutigen Nachfahren der Abo­rigines, die die Ära der europäischen Kolonisation über­lebten, tun sich zudem schwer damit, in der weißen au­stralischen Gesellschaft wirtschaftlich Fuß zu fassen.
    Ein scheinbar zwingendes Argument lautet so: Weiße Einwanderer errichteten in Australien einen Staat auf der Grundlage von Metallwerkzeugen und Landwirtschaft mit Attributen wie alphabetisiert, industrialisiert, poli­tisch zentralisiert und demokratisch, und das alles bin­nen eines Jahrhunderts nach Besiedlung desselben Kon­tinents, auf dem die Aborigines seit mindestens 40 000 Jahren als Jäger und Sammler in Stammesgemeinschaf­ten ohne Metall gelebt hatten. Es handelt sich mithin um zwei geschichtliche Experimente mit identischer Umwelt, wobei die einzige Variable die Völker waren, die sich ih­rer bemächtigten. Müssen die Unterschiede zwischen den Gesellschaften der australischen Aborigines und der Europäer da nicht zwangsläufig auf Unterschiede zwi­schen den Völkern selbst zurückgeführt werden?
    Derart rassistische Erklärungen sind nicht nur wider­wärtig, sondern auch falsch. Es gibt keinen stichhaltigen Beweis für eine Parallele zwischen Intelligenz und tech­nischem Entwicklungsstand. Im Gegenteil, noch existie­rende »Steinzeitvölker« besitzen im Durchschnitt eher mehr und nicht weniger Intelligenz als die Bewohner der Industrieländer, wie ich gleich erläutern werde. Es mag paradox klingen, aber die weißen Neu­Australier kön­nen das Verdienst für den Aufbau einer Industriegesell­schaft mit den genannten Errungenschaften nicht für sich in Anspruch nehmen, wie sie es gerne tun (siehe Kapitel 14). Auch ist regelmäßig zu beobachten, daß Angehörige von Völkern, die bis vor kurzem auf technisch primitiver Stufe standen, die Technik des Industriezeitalters bestens meistern, wenn sie nur die Chance erhalten.
    Die kognitive Psychologie hat ausgiebig nach IQ-­Un­terschieden zwischen Angehörigen von Völkern unter­schiedlicher
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