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Arche Noah | Roman aus Ägypten

Arche Noah | Roman aus Ägypten

Titel: Arche Noah | Roman aus Ägypten
Autoren: Chalid al-Chamissi
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Durcheinander. Verloren in Chaos und Korruption. Nicht den kleinsten Schritt geht es voran. Wir sehen kein Licht am Ende des Tunnels. Hier tun wir nur eines: ein Euter aus unverwüstlichemGranit zu melken. Gleichzeitig dürfen wir zusehen, wie die Menschen draussen leben. Tagsüber Arbeit. Abends und am Wochenende geniessen sie ihre Freizeit. Der Alltag ist bestimmt auch hart. Aber wenigstens haben die Leute Freude, Geld und ihren Freiraum. Das Leben hier in Ägypten sieht dagegen so aus: keine Arbeit, kein Geld, keine Ferien, keine Freiräume. Nichts von all dem. Durch Satellitenschüsseln und das Internet werden wir vollgepumpt mit Bildern vom schönen Leben draussen. Wir wollen auch so leben. Wir wollen die Decke durchbrechen, die uns auf den Kopf fällt, die jede Bewegung, jeden Atemzug erstickt. Dort gibt es Luft, Jungen, Mädchen, Liebe, Freiheit. Selbst das spirituelle Leben dort ist echter als bei uns. Bei all dem, was wir tagtäglich erleben, verkommen unsere Sitten und Gebräuche. Ich will ja nichts sagen, aber was ist denn aus uns geworden? Aussen hui und innen pfui. Ich als Ägypter, der sein Land und das Umfeld liebt, in dem er aufgewachsen ist, sehe, dass ich gehen muss, um meinem Land einen Dienst zu erweisen. Ägypten will mich im Grunde doch gar nicht. Es ist nicht imstande, mir einen Platz zu bieten. Ich habe das Gefühl, ihm zur Last zu fallen. Es gibt nicht genug Arbeit für uns. »Ihr seid einfach zu viele geworden. Wir wissen nicht mehr, wohin mit euch«, lässt die Regierung bei jeder Gelegenheit verlauten. Schau dir nur die Plakate überall auf den Strassen an. »Handeln wir bedacht, und wir alle werden satt«, steht da geschrieben. Ist ja klar, dass die Leute den Spruch gleich umgewandelt haben in »Handeln wir bedacht, und hauen wir alle ab«.
    Wenn ich ins Ausland gehe und dort ein gutes Leben habe, dann werde ich bestimmt einer von ihnen. Schliesslich ist das ja dann mein neues Leben. Das Land, in dem ich mich niederlasse, wird zu meinem Land. Aber eines gibt mir zu denken: Angenommen, ich gehe jetzt irgendwohin und bleibe dort eine Weile, werdeich dann je nach Ägypten zurückkommen? Diese Frage lässt mir keine Ruhe. Nehmen wir also einmal an, ich setzte dort Kinder in die Welt, würde ich meine Kinder herbringen und hier auf die Schule schicken? Ganz sicher nicht! Bestimmt käme ich zu Besuch nach Ägypten, mehr aber auch nicht.
    A chmad erwachte erst am Abend wieder. Mutter und Tante hatten tagsüber mehrmals in sein Zimmer geschaut und gesehen, dass er, gleichmässig atmend und die Gesichtsmuskeln völlig entspannt, tief und fest schlief. Beide hatten ihm jedes Mal kurz über die Stirn gestrichen, und die Mutter hatte mit einem parfümierten rosa Taschentuch den Schweiss abgetupft, der ihm auf der Haut stand. Die Zeiger seiner Armbanduhr misstrauisch beäugend, ging Achmad ins Wohnzimmer. Die beiden Frauen sassen einander zugewandt auf dem Sofa, vertieft in die Karten, die sie zwischen sich ausgebreitet hatten. »Wird der Wind Gutes oder Schlechtes bringen? Wird das Unglück, als Glück getarnt, über uns kommen? Oder wird sich das Schicksal diesmal gnädig zeigen?«
    Als Achmad ins Zimmer trat, lasen die beiden gerade seine Karten. Die Tante schaute ihn an. »Endlich, Junge! Wir haben uns schon gefragt, ob du der Vollmond bist und dich deshalb so rarmachst. Du hast aber lange geschlafen. Es ist schon neunzehn Uhr.« Er setzte sich zu ihnen und starrte auf den Bildschirm. Auf einem der vielen Satellitensender lief eine amerikanische Serie. Die Mutter stand auf, um ihm Frühstück, Mittagessen und Abendbrot zu bereiten. Das sei nicht nötig, wehrte er ab, er gehe gleich aus. Er sei um acht mit seinem Freund Jâssir von nebenan verabredet.
    Ihr Stammlokal war das Café im Nachbarhaus. Jâssir wartete schon auf ihn, die Dominosteine vor sich auf dem Tisch. In diesem Spiel war Jâssir unschlagbar. Er war ein Mathematikgenie und hatte Elektrotechnik studiert. Genutzt hatte ihm das Studium aber nur in einer Hinsicht: Jâssir wusste immer, welche Steine sein Gegner hatte und welche Augenzahlen die verdeckt liegenden Steine bargen. Es war, als trüge er jene Brille, von der alle Jugendlichen in Ägypten träumten. Die Brille, mit der man Frauen durch die Kleider hindurch bis auf die nackte Haut sehen konnte. An diesem Tag aber liess er Achmad haushoch gewinnen, aus Freude darüber, dass seinem Freund endlich die Augen aufgegangen waren. Denn lange hatte er sie ihm zu öffnen versucht,
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