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Arche Noah | Roman aus Ägypten

Arche Noah | Roman aus Ägypten

Titel: Arche Noah | Roman aus Ägypten
Autoren: Chalid al-Chamissi
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Konsulat verpflichtet, Ibrahîm ein Visum auszustellen.
    E in ägyptisches Gericht hätte Ibrahîm auch recht gegeben, allerdings erst im Rentenalter, damit er sich drüben eine Zahnprothese verpassen lassen kann. Als Anwalt weiss ich, wie das läuft. Aber Gott sei Dank war es ein britisches Gericht, und Ibrahîms Pechsträhne hatte ein Ende. Na ja, auch unsereins muss sich überlegen, wie er aus dem Teufelskreis herauskommt. Ich rief Hâgar an und verabredete mich mit ihr im Ormanpark, den ich über alles liebe.Jeden Quadratzentimeter der achtundzwanzig Feddan bin ich abgelaufen. Als Zeitpunkt wählte ich den 1. Januar 2005, zwölf Uhr mittags, also den fünften Jahrestag unseres ersten Blicks. Und als Treffpunkt bestimmte ich den Ort, an dem wir unsere schönsten Momente verlebt hatten. In diesem Park hatte sich unsere ganze Geschichte abgespielt: die erste Liebeserklärung, das erste Händchenhalten, die erste Umarmung, der erste Kuss. Ach, Hâgar, ich liebe alles an dir, sogar die kleine Narbe unter deinem Kinn! Bevor ich morgens aus dem Haus ging, überlegte ich, ob ich meiner Mutter sagen sollte, was ich vorhatte. Ich brachte es nicht über mich. Es war mein Geburtstag, und sie hatte gute Laune. Fröhlich herzte sie mich und redete unablässig von der Torte, die sie backen wollte. Also steckte ich den Kopf lieber in eine Zeitung und stiess dabei auf eine seltsame Meldung: Der Tsunami habe in Sri Lanka Tausende Menschenleben gefordert. Aber es gebe keine Spur von toten Tieren. In dem Gebiet mit der grössten Dichte wilder Tiere seien 22 000 Menschen ums Leben gekommen. Aber nicht ein einziger Tierkadaver sei gefunden worden. Kein Elefant, keine Giraffe. »Ich glaube«, so die Vermutung eines Wissenschaftlers, »dass Tiere Katastrophen erahnen. Sie haben den sechsten Sinn. Sie merken, wenn etwas im Gange ist.« Gäbe es in Ägypten wilde Tiere wie in Sri Lanka, dann hätten sie längst allesamt das Weite gesucht, denn die Katastrophe steht kurz bevor. Was mich wahnsinnig macht, ist die Tatsache, dass sie garantiert ein Visum bekämen, denn die Europäer und Amerikaner mögen Tiere lieber als menschlichen Abschaum wie uns.
    Ich verliess das Haus, stieg in einen Mikrobus und hielt den ganzen Weg zum Ormanpark Ausschau nach einem Hund oder einer Katze. Bezeichnenderweise gab es keine! Sie haben die Hunde gehen lassen, und wir müssen bleiben, dachte ich.
    Etwa eine Stunde vor der verabredeten Zeit war ich dort. Ich setzte mich unter den Baum, der samt Zweigen und Blättern die schönsten Momente unserer Liebe miterlebt hatte. Um mir Mut zu machen, schaute ich zum Himmel und bat, er möge mir die Kraft geben, das zu sagen, was ich auf dem Herzen hatte. Nein, was ich im Sinn hatte, meine ich natürlich. Wie aber hätte mir der Himmel beistehen können, wo er doch Zeuge unseres Versprechens war? Der Himmel, so hatten wir uns gelobt, soll Zeuge unseres Glücks sein, denn so könne mein Vater von oben zusehen und sich mitfreuen, wenn ich in die neue Welt eintrat. An jenem Tag hatten wir beschlossen, im Freien Hochzeit zu halten, damit der Himmel unser Zeuge ist. Plötzlich wurde mir klar, dass das vielleicht unsere letzte Begegnung sein würde. Ein Schauder befiel mich. Dann aber schoss mir eine Frage durch den Kopf: Was habe ich Hâgar schon zu bieten? Statt von einer Kraft erfasst zu werden, die Berge versetzt, übermannte mich ein Schwächeanfall. Ich fing an zu weinen. Nein, das war kein Weinen, sondern ein jämmerliches Schluchzen.
    S o viele Menschen im Ormanpark. Tausend, zweitausend sind’s, doch ich seh nur die zwei.
    Der Wind, der durch den Garten pfeift, hat sie verschweisst, vereint.
    Er flüstert ihr etwas ins Ohr. Ich lieb dich, sagt er bestimmt.
    Sie flüstert ihm etwas ins Ohr. Ich lieb dich, sagt sie bestimmt.
    Aber sie versprechen einander nichts. Die beiden sind zu zart, um unehrlich zu sein.
    So viele Menschen im Ormanpark. Tausend, zweitausend sind’s, doch ich seh nur die zwei.
    Plötzlich bricht’s aus ihm raus. Er bricht in Tränen aus.
    Doch die beiden, zerrissen von einem Schmerz grösser als sie selbst, lassen dem Hundevieh das Urteil über sie.
    Jetzt weinen sie beide. Sie hören nichts mehr, nur noch das Schluchzen des andren. Und dann, unendlich langsam, als seien sie im Gebet, trennen sich ihre Körper, zerreissen, schreien auf vor Schmerz. Sie ergreifen sich erneut, wieder vereint, entflammen sie. Sie zerreissen aufs Neu. Weinend klammern sich die Augen aneinander. Während sie
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