Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Arbeit und Struktur - Der Blog

Arbeit und Struktur - Der Blog

Titel: Arbeit und Struktur - Der Blog
Autoren: Wolfgang Herrndorf
Vom Netzwerk:
ich was rechnen muß, benutze ich den Taschenrechner des Macbooks, was auch Schwierigkeiten macht.

    Meistens mache ich vier oder fünf Versuche und entscheide mich für das häufigste Ergebnis. Vier identische Zahlen untereinander: Okay, das überweise ich dann jetzt mal an das Finanzamt.

    Ich lerne nichts Neues mehr. Weil ich nicht will. Es ist wie mir Bücher zu schenken: Erinnert mich an den Tod. Neues braucht man für später, Bücher liest man in der Zukunft. Das Wort hat für mich keine Bedeutung. Ich kann den heutigen Abend in Gedanken berühren, dahinter ist nichts. Ob ich nachher noch C. treffe, ob wir verabredet waren, weiß ich nicht. Sie wird mich anrufen, um mich daran zu erinnern oder nicht.

    19.2. 2013 7:00

    Drei Jahre.

    84% derer, die Bestrahlung und Chemo hatten, sind tot, 95.6% derer mit Bestrahlung allein (UCLA, 2009). Wobei das noch die optimistischste Studie ist, die ich finden konnte. Da überleben zum Beispiel 9.8% fünf Jahre, während andere Studien durchschnittlich weniger als 2% Fünfjahresüberlebende ausweisen. Zum Vergleich: Leute mit nur Biopsie und Bestrahlung sind nach vier Jahren noch zu 0% am Leben (optimistischste Studie), was das Erreichen der Fünfjahresmarke selbst für überzeugte Gemüsekostler zu einer Herausforderung macht.

    Unsterblich duften die Linden -

    20.2. 2013 11:29

    Lektüre schon wieder Duve, Liebeslied, bereits zum zweiten Mal seit meiner Diagnose. Und wie oft zuvor schon, weiß ich nicht mehr. Trotzdem habe ich wieder Sachen vergessen. Die Bootstour mit Hemstedt, wie sie sich an den Tag erinnert, wie die Erinnerung zerhackt wird, und wie das gemacht ist. Auch der Goethe-Aufsatz: Wie sie Werther erst für sein empfindsames Gewinsel beschimpft und dann heimlich zitiert – vergessen.

    Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, daß sie dem Armleuchter, Thor-Kunkel-Bejubler und Goetz-zu-kühl-Finder Volker Weidermann spätestens in den Neunzigern die Hauptplatine rausgelötet haben, reichte sein Urteil: “Der Roman ist kein Roman, sondern eine entwicklungslose Leidensgeschichte, eine Selbstmitleidsgeschichte, der selbst Duves böser Blick von einst verlorengegangen ist. Leidverbissen, hoffnungslos.” Am Arsch, Mann. Am Arsch. Wie das Kohelet auch sollte man Dies ist kein Liebeslied (beschissener Titel leider) mindestens alle fünf Jahre einmal lesen, bis man hundert ist, um keine Sekunde zu vergessen, was das hier ist und was es bedeutet: Nichts. Und insbesondere: Nichts Gerechtes. Und wieder kriegt Anne Strelau die Fresse voll. Und wieder. Und wieder und wieder.

Siebenunddreißig : 

    22.2. 2013 9:11

    Eine Bekannte, deren per SMS, Telefon und Mail wiederholt geäußerte Hilfs- und Besuchsangebote der letzten Wochen ich immer und immer wieder mit Hinweis auf meine zunehmende Soziophobie und Zeitknappheit abgelehnt hatte, steht unangekündigt vor meiner Tür, zwei Pappbecher mit dampfendem Kaffee in ihren Händen. Ich bitte sie zu gehen. Ich arbeite, ich habe keine Zeit. Nein, ich kann dich nicht reinlassen, nein, ich will mich nicht unterhalten, nein, ich kann nicht noch einmal frühstücken. Nein. Sie will den Kaffee dalassen. Ich bitte sie, ihn mitzunehmen. Ja, ganz sicher. Nein. Letztes Bild: Sie steht vor der Fahrstuhltür und drückt den Knopf.

    Wenige Minuten später informiert eine SMS mich, daß vor meiner Wohnungstür nun eine Kleinigkeit zu essen liegt, dazu ein Kaffeebecher, dessen Inhalt kalt wird. “Ich bleibe im Auto und warte, bis du es dir überlegt hast, wenn du willst, den ganzen Tag! Komm schon, ich hab ein leckeres Frühstück dabei! Dein Kaffee steht vor deiner Tür!”

    Nach längerer Zeit, in der ich immer unruhiger, ruhiger und wieder unruhiger werde, öffne ich die Tür, um die Gegenstände vor meiner Tür, die auf meiner Türschwelle, auf meiner Grenze stehen und mich bedrohen, vorsichtig zu entsorgen. Der Kaffee spritzt durch die Küche, der Becher rollt über den Fußboden, ich putze die Küche.

    Nachdem ich halb epileptisch, halb sprachlos in das Handy gestammelt habe, sie möge vor meinem Haus bitte auf keinen Fall stehenbleiben, sondern nach Hause fahren, kommt eine SMS, sie fahre jetzt und habe mich lieb.

    Für den Abwehrzauber des Weiterarbeitens sind meine Nerven zu gespannt. Wie bei der Jana-Krise vor drei Jahren laufe ich im Kreis durch meine Wohnung. Stunden vergehen, bevor ich mich traue, C. anzurufen. Lieber riefe ich sie nicht an. Ich weiß, daß aus meiner Stimme Panik und Irrsinn sprechen, und ich
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher