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Arbeit und Struktur - Der Blog

Arbeit und Struktur - Der Blog

Titel: Arbeit und Struktur - Der Blog
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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Im Innenhof gibt es eine Platte, und die Sonne scheint. X. hat verwirrende Ähnlichkeit mit Ira, Mimik und Stimme fast komplett, aber auch Geprächsführung, Interessen, teilweise Aussehen.

    Mein Sichtfeldausfall macht sich nicht bemerkbar. Wir zählen keine Punkte, auch geschmettert wird nicht, die Gefahr ist zu groß: Der Ball ist alt, und es ist der einzige auf der Psychiatrie. Nur schnelles, kontemplatives Hin- und Herspiel, dazwischen gelegentlich Stillstand, da gleichzeitig konzentrierter Austausch der Biografien, der Ereignisse rund um den Anfall. Dabei so starke Übereinstimmung des gegenseitig mitgeteilten Wahns (X.: Beherrscherin der Sonne, ich: Seher der Zukunft. X.: Unendliche Funktion gelöst, ich: Die Weltformel ein endloser Zirkelschluß etc.), daß ich mir, der ich immer noch keine klare Diagnose habe (Manie wurde mittlerweile ad acta gelegt) einfach mal ihren Befund anprobiere: Schizo-affektive Störung. Um zu gucken, wie sich das anfühlt. Schizo-affektive Störung. Und wie fühlt sich das an? Manie infolge Schlaflosigkeit infolge Todesangst war mir lieber.

    Längere Ballwechsel, und dann geht es rasant über die Dörfer. X. hat gerade Nietzsche komplett. Wir kommen von Heidegger (fraglich) über Grass (Arschloch) zu Salinger (groß) und Piaget (groß). Die Sonne wärmt, wir freuen uns an der Übereinstimmung und rufen die Namen großer Geister. Jetzt bin ich endgültig in der Klapse angekommen.

    Ebenfalls im Garten anwesend: 1 Maiglöckchen, einige Krokusse, später zwei Blaumeisen.

    Hier wohne ich jetzt also.

Zwei : 

    11.3. 2010 15:00

    Sitze im Garten in der Sonne mit Dostojewskij, Der Spieler. Mein bester Freund Rolf Müller empfahl mir das Buch, als ich noch irgendwo zwischen Enid Blyton und Karl May steckte. Als ich es dann mit Mitte zwanzig las, fand ich es deutlich schwächer als die anderen Dostojewskijs. Jetzt bin ich so begeistert von den ersten acht Sätzen, daß ich nicht weiterlesen kann. Die superelegante und indirekte Mitteilung der Informationen, das perfekte Handwerk. Wer es übersetzt hat, steht leider nicht dabei. Kunstleder, seinerzeit im Billigangebot: Sieben Russen zum Preis von einem.

    Copyright WELTBILD
    Mit Genehmigung der Recht-Inhaber
    Herstellung: SVS, Stuttgart
    Printed in Austria

    Das ist alles, und das alles war wichtiger als der Übersetzer. Während ich lese, verzweifeltes Schluchzen aus dem Gebäude neben mir. Das Gefühl, es könne jemand von unserer Station sein, jemand, dessen Gesicht ich aus dem Gemeinschaftsraum, vom Essen, kenne, ist zutiefst deprimierend.

    Dann sich verdichtende Angst, es könne X. sein. Ich gehe auf Station, um Tee nachzuholen, begegne der Ärztin-Praktikantin und stelle so neutral wie möglich die Frage (nachdem ich darauf hingewiesen habe, daß mich das Schluchzen beim Lesen störe ), ob es jemand von unserer Station sein könnte. Die Ärztin-Praktikantin verneint und fügt hinzu: “X. ist es jedenfalls nicht. Die ist ausgegangen.”

    11.3. 2010 20:00

    Abends ist es ruhig. Wer wach ist, sieht im Gemeinschaftsraum fern, über das Programm wird abgestimmt. Ich trinke Tee und lese. Raise High the Roof Beam, Carpenters.

    11.3. 2010 20:11

    Einer geht immer auf und ab. Das ist der Traurigste.

    12.3. 2010 2:30

    Zolpidem reduziert. Mache im Bett Yoga-Übungen in Erinnerung an die einzige Stunde Yoga, die ich vor 27 Jahren im Rahmen einer Projektwoche am Gymnasium bei der Mutter von Anja Kranz machte. Jedes Körperteil einzeln ansprechbar. Konzentriert entspannen. Danach zwar immer noch schlaflos, aber entspannt und schwer wie Blei. Unser Projekt damals hieß Gesundheitswoche, und ich hatte mich dafür gemeldet, weil ich dachte, daß B. daran teilnehmen würde, die sich das ausgedacht hatte. Sie machte dann aber Skifahren, und ich ernährte mich eine Woche von Gemüse und lernte Yoga.

    12.3. 2010 4:50

    Was macht mein Zimmernachbar da eigentlich? Zähneknirschen?

    12.3. 2010 5:00

    Wach. Aufstehen. Draußen Schnee. SCHNEE. Eine dünne, weiße Schicht über dem Garten zwischen den roten Ziegelbauten aus wilhelminischer Zeit. Arbeite im Gemeinschaftsraum. Sonst ist keiner wach.

    Muß für die Ärzte Stimmungstagebuch führen, jeweils um 8, 13, 19 Uhr Check: Bin ich sehr fröhlich, fröhlich, mittel, bedrückt, sehr bedrückt? Durchgehend “sehr fröhlich” und ein durchgestrichenes und durch “sehr fröhlich” ersetztes “fröhlich” bisher. Da die Kategorie “hocheuphorisch” fehlt, die ich während jener Tage hätte
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