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Arbeit und Struktur - Der Blog

Arbeit und Struktur - Der Blog

Titel: Arbeit und Struktur - Der Blog
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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Wort ganze Figuren, Handlungsstränge und Lebenskonzepte im Abgrund zu versenken, Desillusionsmaschine aus der Hölle. Und ich erwarte nicht, daß das einer genauso macht oder kann, Desillusion ist vielleicht auch nicht jedermanns Sache, obwohl ich nicht weiß, wie man über 300 Seiten gehen soll ohne das. Aber eine wenigstens spürbare, wie auch immer geringe Aufmerksamkeit der Form und Struktur widmen und meinetwegen scheitern, das sollte doch wohl drin sein, bevor man den Mann-Vergleich rausholt. Und Tellkamp hat ihn ja selbst rausgeholt, im Doppelpack mit dem Goethe-Schwingschleifer, und wenn man dann diesen – ja – Familienroman liest: Himmel. Nichts. Nada. Nicht mal der Versuch zu irgendwas. Dieses ganze Gedödel um Uhren und Brötchen ist ja das Eigentliche, der existentielle Kern dieses sprachlich verlotterten Scheißdrecks. Uhren und Brötchen und Mädchen hätte ich am liebsten geschrieben, aber selbst das Mädchen, den Selbstläufer einer wie auch immer vermurksten Adoleszenzgeschichte kriegt er nicht hin, versackt im Nichts. Der Flugzeugbauer versackt im Nichts. Die Familie, die in den Westen ausreist, versackt im Nichts. Was man ja im Fall dieser Ausreisenden, wenn’s einen nur für fünf Pfennig interessieren würde, zu einem spürbaren Nichts auszubauen versucht haben würde. Aber die Familie wird vorher nicht eingeführt und hinterher nicht vermißt, und das Ganze darf man jetzt vergleichen mit einem – Entschuldigung – Zauberer, der Clawdia Chauchat 120 Seiten vor Schluß in einem Nebensatz aus dem Roman eskamotiert, um das Elend ihrer Nichtanwesenheit, den Liebeswahnsinn und die fiebrige Erwartung ihrer Rückkehr gezielt aus Hans Castorp hinaus- und in den Kopf Lesers hineinzuprügeln. Und während man noch vergeblich auf ein Lebenszeichen der Angebeteten wartet, flackert ein Schwarzweißfilm vom Ersten Weltkrieg über die Leinwand. Als ich das das erste Mal gelesen hab, bin ich fast gestorben.

    Drei Sachen, die Tellkamp hinkriegt: Unterwasserfahrt des Panzers (wo er sich dankenswerterweise auch sprachlich dem B-Picture nähert), Chirurgenszene (“der Operateur setzt den Haken” o.s.ä.), die Reden vorm Schriftstellerverband. Wo ich wirklich gern wüßte, inwieweit die recherchiert oder selbst ausgedacht sind. Weil, wenn selbst ausgedacht: groß.

    Zum Schluß der Bunnyshow einen Kompaß gewonnen, “showing direction of al-kaaba”. Der Kompaß teilt den Umkreis in 40 Abschnitte zu 9 Grad, ein Begleitheft informiert über die Kennzahl des jeweiligen Standorts auf der Weltkugel, nach dem sich die Qibla errechnet. Schwer zu sagen, ob man mit seinem Körper so präzise hinbeten kann. Die Frage, ab wieviel Grad Abweichung das Gebet ungültig wird, bleibt unbeantwortet. Vierkommafünf?

    Auf Recherche zum Wüstenroman immerhin gefunden: “Wenn ein Hase, eine Ziege oder ein anderes Tier sich vor einem Betenden bewegen, bleibt das Gebet gültig. Die Rechtsgelehrten sind sich darüber einig, dass nur drei Wesen das Gebet ungültig machen: Eine erwachsene Frau, ein schwarzer Hund und ein Esel.” (Abd al-Aziz ibn Baz)

    Tatsächlich brauche ich dringend einen Kompaß, wenn ich nachts durch Berlin laufe, kein Mond und keine Sterne zu sehen sind und ich nicht weiß, ob ich nach Ost oder West unterwegs bin: Ich bin unglaublich orientierungslos. Vom NBI zu mir nach Hause sind es zwei lange gerade Straßen, die im rechten Winkel zueinander stehen. Letztes Jahr versuchte ich das mit der Diagonalen Richtung Südwesten abzuschneiden, anderthalb Stunden später stand ich nördlich vom NBI. Thema der Bunnyshow übrigens Buchvorstellung Passig / Scholz: Verirren.

    17.3. 2010 00:45

    Vier Ratten auf dem Bürgersteig. Sie laufen nicht weg, als ich stehenbleibe, sie laufen nicht weg, als betrunkene Passanten vorbeikommen. Sie laufen nicht weg, als ich mich nähere, als ich mich niederknie und die Hand ausstrecke. Eine schnuppert an meinem ausgestreckten Finger und trottet zurück in ihre Wohnung: Torstraße 203.

    17.3. 2010 15:00

    Letzter Termin in der Psychiatrie. Ja, es geht mir gut, ja. Bringe X. wie versprochen Nine Stories in der Tagesklinik vorbei.

    Unten eine Ausstellung der Bildhauerin Dorothea Buck, die Psychose für unter anderem Selbstfindung hält und Psychoseinhalte als religiöse Erfahrungen verstanden wissen will. “Könnte es sein, dass Schizophrene manchmal die vom christlichen Glauben eigentlich begabten Menschen sind? Welches Wissen über den Menschen, über seine Abgründe, über seine
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