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Arbeit und Struktur - Der Blog

Arbeit und Struktur - Der Blog

Titel: Arbeit und Struktur - Der Blog
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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Kugelschreiber.

    13.3. 2010 10:07

    Erster Besuch zu Hause ohne Begleitung, der beruhigende Anblick vertrauter Gegenstände. Die Waschmaschine, die meine Eltern beim Aufenthalt in meiner Wohnung zerstört zu haben glaubten und die mehrere Waschgänge lang nicht tat, was sie tun sollte -, tut es wieder. Einfach so. Miele. Die Maschine wurde noch von meiner Großmutter erworben, ein Waschautomat der 1968er-Baureihe, also aus einer Zeit, als der Mond noch nicht betreten, Borussia Neunkirchen noch in der Bundesliga und das elektronische Signallämpchen nicht erfunden war.

    Das mechanische Äquivalent zum Signallämpchen ist die Überschwemmung des Fußbodens, die den Besitzer darauf hinweist, daß das Flusensieb voll ist. Man muß das Sieb dann rausnehmen und entflusen, etwa alle fünf Jahre, was bedeutet, daß dies im Leben des Automatens sieben oder acht Mal geschah, und ich erinnere mich, wie gerührt ich immer beim Entflusen war: wie die Zeit vergeht. Die Maschine wurde nie gewartet und war nie defekt. Die vollständige Aufschrift lautet: MIELE AUTOMATIC W 429 S.

    13.3. 2010 10:12

    Summe von mir selbst unbemerkt seit Tagen “Bunte Schlangen, zweigezüngt, Igel, Molche, fort von hier! Daß ihr euren Gift nicht bringt in der Königin Revier!” Text kannte ich nur bis zweigezüngt, mußte ich googeln. Seit dem Aufenthalt im Bundeswehrkrankenhaus laufen in Endlosschleife zwei Kassetten bei mir, Kassette 1: Dowland, Handford, Rosseter, Lawes, Monteverdi, Bachchoräle. Aufgenommen von Calvin, meinem besten Freund aus der Nürnberger Zeit, der sich mit Holm die Figur des Desmond in den Plüschgewittern teilt (ohne die Zwielichtigkeiten, die erfunden sind). Jetzt Orchestermusiker in Christchurch, NZ. Seit Jahren nicht gesehen. Schrieb zuletzt gegen Weihnachten, lud mich wie immer ein, ihn zu besuchen.

    Weiß nicht, wie ich es ihm sagen soll. Wahnsinnig empfindlicher Mann, kann nicht mal Blut sehen.

    Kassette 2, Seite A: Campian, Marchant, Corkine, Dowland, Morley, Parrichon, Hume, Anne Boleyn. Seite B: Mendelssohn-Bartholdy, Sommernachtstraum, von mir selbst aufgenommen zu Zeiten, als ich in A. verliebt war. Fünfzehn Jahre gräßlicher Liebeskummer um einer Frau willen, die ich in all den Jahren, seit ich sie zum ersten Mal besuchte, nicht länger als acht Stunden gesehen habe. Nie ein Bild von ihr besessen. Hunderte Briefe geschrieben, entsetzliche Briefe. Sie vor Beginn meines Studiums einmal besucht, um sie zu zeichnen: komplett mißlungen. Schwärzester Tag meines Lebens. Abends ihren Vater mit dem Auto abgeschleppt, der liegengeblieben war und anrief. Dann im Haus übernachtet, weil schon spät. Keine Sekunde geschlafen, hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und Vernunft. Am nächsten Tag peinliches Geständnis, mit dem ganzen Furor meiner sozialen Inkompetenz. Dann mit 150 km/h zurück nach Hamburg, über die kurvigen Landstraßen der Schleswig-Holsteinischen Schweiz, und ich erinnere mich noch genau, wie überrascht ich war, festzustellen, daß Autos seitlich gleiten können wie Schlittschuhläufer, und an das Gefühl in meinem Magen. Daß man es danach noch ein Vierteljahrhundert aushält in dieser Welt, auch eine Leistung.

    Übrigens bin ich völlig unmusikalisch. Daß Emma Kirkby fantastisch singt, weiß ich von Calvin. Glaube auch, hören zu können, daß sie fantastisch singt, weiß aber aus Erfahrung, daß ich mittelprächtige Ausübung von Musik nicht von guter unterscheiden kann. Ähnlich schwach ausgeprägte Sinne: Geschmack, Geruch. Der Rest ist okay.

    Wir eilen mit schwachen, doch emsigen Schritten.

    13.3. 2010 10:20

    Wenige Minuten, nachdem ich über meine Waschmaschine schrieb, trete ich in meinem Badezimmer in eine Pfütze. Das Flusensieb ist voll. Es ist nicht der einzige Zufall der letzten Tage. Die Begegnung mit X., der Entschluß, am Jugendroman weiterzuarbeiten auf den Tag genau sechs Jahre, nachdem ich ihn begonnen hatte, heute morgen die Lektüre der Blume von Tsingtao, die auf der Irrenstation der Charité spielt und lauter Sätze enthält, die ich im Wahn auch sagen mußte etc. Die Häufung der Zufälle offensichtlich die Folge eines überwachen Zustandes, in dem alles genau miteinander verglichen wird. Ich kenne das sonst nur aus den Phasen starker Verliebtheit. Trotzdem verwirrt es mich.

    13.3. 2010 11:00

    Gib mir ein Jahr, Herrgott, an den ich nicht glaube, und ich werde fertig mit allem. (geweint)

    13.3. 2010 14:00

    Die anzugtragenden Türsteher oder Gäste vor dem BABALU
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