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Arbeit und Struktur - Der Blog

Arbeit und Struktur - Der Blog

Titel: Arbeit und Struktur - Der Blog
Autoren: Wolfgang Herrndorf
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ankreuzen müssen, vermute ich, daß sich hinter dem Begriff “sehr fröhlich” eine Falle verbirgt. Wenn ich durchgehend “sehr fröhlich” ankreuze, lassen sie mich nie wieder raus. Deshalb das versuchsweise Kreuz bei “fröhlich”. Dann aber entschieden, ehrlich zu antworten. Die Ärzte sind ja nicht blöd.

    12.3. 2010 6:46

    Im Gemeinschaftsraum der Neuropsychiatrie gibt es:

    1 Fernseher
    1 VHS-Gerät
    7 VHS-Kassetten (Blockbuster)
    1 Computer (Windows XP, kein Internet)
    17 Bücher

    Von Frl. Smillas Gespür für Schnee übers Moppel-Ich bis Tzvetan Todorov (Die verhinderte Weltmacht, Reflexionen eines Europäers) ist es genau das Zusammengewürfelte, das man erwartet. Überraschung: “Frei erfunden” von Jochen Reinecke. Hey, Jochen! Du auch hier!

    12.3. 2010 7:30

    Arbeite an drei Textstellen, frühstücke und unterhalte mich mit Pfleger und Patienten gleichzeitig, ohne irgendwo den Faden zu verlieren. Auch nicht normal.

    Fünf Männer auf der Station teilen sich Toilette und Dusche. Außer mir: Der Zimmernachbar, der Geher, der Küchenaufräumer, der Zucker. Einer von ihnen hat offenbar ein Problem mit dem Klopapier. Er zieht nie die Spülung, und jedesmal, wenn ich in die Kabine komme, liegt ein Muster aus (meist unbenutzem) Toilettenpapier am Boden: geheime Botschaften aus einer anderen Welt.

    Eine einzige Patientin entspricht dem Hollywood-Klischee der Irren: Nachlässige Kleidung, schlappe Haltung, wirre Haare. Nun sitzt sie zusammengesunken auf dem Sofa und starrt auf den nicht eingeschalteten Fernseher, während vor dem Fenster große Flocken fallen.

    Jack-Nicholson-Momente:

    - der Bällekorb in der Psychiatrie, insbesondere der fast braune, abgegriffene Basketball
    - die Diskussion des Fernsehprogramms
    - der Duschraum
    - Einladung zum Gesprächskreis
    - Einladung zum Töpfern und Basteln
    - Einladung, am Ausflug in die Stadt teilzunehmen (sehe mich schon den Bus zum Hafen steuern, wo Max’ Boot liegt)

    Was fehlt: Mildred Ratched.

    12.3. 2010 8:08

    Jemand hat den Fernseher eingeschaltet. Der Hollywood-Irren ist es egal. Sie guckt trotzdem hin.

    12.3. 2010 10:00

    Ganzen Tag geschrieben. Die Visite kommt, der Stationsärztin Dr. Eins macht mein haltbar fröhlicher Affekt Sorgen. Hypomanie ist das Wort. Sie würde mich gern länger hierbehalten, und das ist genau das, was ich mir auch wünsche. Ich nenne meine Gründe, Räumlichkeiten hier vs. Ein-Zimmer-Loch zu Hause, fantastisches Essen, Ruhe, konzentriertes Arbeiten und ein Garten praktisch für mich allein; füge hinzu, daß es wie Urlaub für mich sei, ich es aus demselben Grund für Verschwendung von Steuergeldern hielte, und habe mit dieser Gesamteinschätzung ihre Diagnose der Hypomanie offenbar befestigen können. Merkwürdiger Rat: Man hält meinen Aktivismus für ein gefährliches Symptom, rät jedoch zur Aktivität, da Stillstand eine Rückkehr des noch Schlimmeren bedeute.

    Für das Wochenende erkläre ich vorauseilend mein Einverständnis, mich mit Zyprexa abzuschießen, falls die Manie wiederkäme. Wochenende gefürchtet wegen Ärztemangel. Manie mein Arsch.

    12.3. 2010 12:20

    Ich darf nirgends allein hin. Mit der Praktikantin bei der Strahlentherapeutin Dr. Zwei, Bilder abholen. In der Angst, die ich noch vom letzten Mal her verspüre (“Sie haben da einen zweiten Herd, falls Sie’s nicht wußten”), klammere ich mich am Arm der Praktikantin fest. Befund nach MRT weiter unklar, Dr. Zwei macht mir einen Termin am PET-CT, das ich selbst bezahlen muß, die Rede ist von 1000 Euro. Meine Frage, ob ich nächstes Jahr noch da bin, bleibt ohne Antwort. Natürlich will keiner falsche Prognosen abgeben, aber sie sagt weder Ja noch Nein, sagt auch nicht “Ich weiß es nicht” oder “Das kann man nicht wissen”, ignoriert einfach die Frage, so daß ich in der Nacht abermals damit beschäftigt bin, mich auf drei Monate, wahlweise dreißig Tage runterzurechnen. Meine spätere Vermutung, daß die richtige Antwort gewesen wäre: “Ich weiß es nicht, weil ich beim Glioblastom inkompetent bin und meine Strahlen auf alles richte, was da kommt zwischen Prostata und Frontallappen, weshalb ich Ihnen auch ein Faltblatt in die Hand drücke, auf dem erklärt wird, wie Sie währenddessen mit einer Magensonde ernährt werden”, wird sich noch als falsch herausstellen.

    Auch hat Dr. Zwei etwas nicht ganz und gar Unbewundernswertes an sich, etwas von einer mittelalterlichen Rüstung und Waffe. Sie schenkt mir einen
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