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Antonio im Wunderland

Antonio im Wunderland

Titel: Antonio im Wunderland
Autoren: Jan Weiler
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muss
    bloß alte Fotos von der Osterprozession in Campobas-
    so sehen, damit sich seine Augen mit Tränen und
    Heimweh füllen. Er ist ganz hin und her, ganz zerris-
    sen von seinen Welten, und manchmal wird ihm das zu
    viel. Dann will er alleine sein, oder er stellt etwas an.
    Kommt abends erst spät nach Hause, streitet mit frem-
    den Menschen, schläft aus Protest beim Abendessen
    ein. Mit ihm zu leben ist nicht gerade einfach. Oft frage
    ich mich, wie Ursula das aushält. Sie ist eine stille,
    freundliche Frau. Nie habe ich sie schreien oder flu-
    chen gehört. Befindet sie sich unter Antonios Landsleu-
    ten, lacht sie mit und spricht sogar ein bisschen italie-

    das Laufen durch Fußgängerzonen am Sonntag, wenn die Ge-
    schäfte zuhaben.
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    nisch. Wenn sie aber mit Antonio alleine ist, sagt sie
    fast nichts, und alles, was sie nicht sagt, sagt sie auf
    Deutsch. Sie meckert nicht viel, meistens sieht sie an
    die Decke und atmet tief durch.
    Sie hätte es einfacher haben können, sich das Gerede
    und die Probleme und die hohen Zinsen beim Hausbau
    sparen können, wenn sie gemacht hätte, wozu man ihr
    riet, als sie mit dem dunkeläugigen Gastarbeiter durch
    die Straßen lief: Einen anständigen Deutschen heira-
    ten. Hat sie aber nicht. Und als ich sie frage, warum sie
    das nicht getan hat, sieht sie zu ihm herüber und
    seufzt. Und sagt: «Es war keiner so wie er.»
    «So wie?», frage ich, denn ich verstehe nicht, was sie
    meint.
    «Er war der Einzige, der sich wirklich um mich be-
    müht hat. Ich weiß schon, dass er mich damals brauch-
    te, für die Aufenthaltsgenehmigung. Und ich weiß
    auch, dass er das vorher schon mit anderen probiert
    hat. Er war kein Hauptgewinn, und da dachte ich: Toll,
    ich bin auch keiner. Wir haben gut zusammengepasst.»
    «Das klingt aber traurig», sage ich.
    «Das ist nicht traurig. Es war, wie es war. Ich habe es
    auch nie bereut, denn immerhin waren wir hier immer
    was Besonderes.»
    So kann man es auch sehen. Ich setze mich zu Anto-
    nio auf die Couch. Er hat sich die Welt so gemacht, wie
    er sie braucht. Dreiteilige Sitzgarnitur, Schrankwand
    mit Butzenscheiben, kleine italienische Keramikvögel,
    die auf einer Anrichte stehen.
    Er löst ein Kreuzworträtsel.
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    «Was iste große Fluss mit swei Buchstabbe?», fragt
    er mich.
    «Po. Das musst du doch wissen.»
    «Nee, iste nickte richti.»
    «Dann Ob», versuche ich es weiter.
    «Okee. Danke, meine liebe Jung.»
    Er brütet eine Weile, schreibt mit seinem Kugel-
    schreiber geschäftig in das Heft, legt es schließlich aus
    der Hand und geht in die Küche, um seine Frau zu fra-
    gen, was es zu essen gibt. Er ist seit ein paar Tagen
    Rentner und hat sich noch nicht so richtig auf den neu-
    en Lebensbeat eingestellt. Ich nehme aus Langeweile
    das Rätselheft in die Hand und schaue auf Antonios
    Schwedenrätsel. Was ist denn das? Keilförmiges Stück
    in Kleidungen: ZUTTL. Und hier, dt. Nordseehafen:
    PUMPS. Oder hier, Ostgermanenvolk: SELMF.
    Er hat das ganze Ding ausgefüllt und überall, wo er
    nicht weiterwusste, einfach Phantasiebegriffe erfunden.
    Clubjacke: OGRHUS. Kurzer Regenguss: TUMDTUI.
    Er kommt zurück, und ich lege das Heft schnell wie-
    der auf den Tisch.
    «Bin i schlau?», fragt er mich.
    «Und wie», antworte ich. «Aber ein Kinoangestellter
    mit dreizehn Buchstaben ist ein PLATZANWEISER und
    kein SCHNOOREPUSTI.»
    «Na unde?»
    «Da stimmt doch nichts in deinem Kreuzworträtsel.»
    «Ist egal, stimmte nickt, aber ist fertig. Wen interes-
    sierte?»
    «Aha.»
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    Seine pragmatische Art und Weise, sich Aufgaben zu
    entledigen, finde ich immer wieder phantastisch. Er
    erklärt mir nun, der Rasen müsse dringend gemäht
    werden. Er werde dies sofort erledigen, denn hier in der
    Siedlung würde es nicht gern gesehen, wenn die Gras-
    halme zu lang wüchsen. Ich biete ihm an, dass ich das
    übernehmen könnte, denn ich habe das Gefühl, mich
    schwiegersohnmäßig nützlich machen zu müssen. Er
    lehnt brüsk ab, will mir aber die Maschine zeigen. Also
    gehen wir in die Garage, und er holt seinen Rasenmä-
    her hervor. Er weist mich abermals darauf hin, dass
    diese Arbeit seine Sache sei.
    «Muss man der feine precisione Obackt gebe», fügt er hinzu, als handele es sich bei seinem Rasenmäher um
    eine Mondlandefähre. Ich gebe mich beeindruckt und
    will eben wieder ins Haus gehen, um vielleicht ein klei-
    nes Kreuzworträtsel zu lösen. Doch Antonio besteht
    darauf, dass ich Zeuge der präzisen Kürzung seines
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