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Antonio im Wunderland

Antonio im Wunderland

Titel: Antonio im Wunderland
Autoren: Jan Weiler
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befestigt die gekürz-
    ten Beine provisorisch mit Stecknadeln, und Antonio
    sucht einen Gürtel mit einer großen Schnalle, damit er
    kaschieren kann, dass er die Hose nicht zubekommt.
    Nachdem die Welt gerettet und der Anzug für morgen
    präpariert ist, nimmt Antonio ein Bad. Seine Frau, ihre
    Tochter und ich sinken ermattet in die Kissen.
    Am nächsten Morgen badet Antonio gleich noch
    einmal, denn Baden ist was für elegante Leute. Heute
    muss er erst um zehn Uhr im Werk sein, er wird ohne-
    hin nicht mehr richtig arbeiten. Wir fahren mit meinem
    Wagen hin, denn Antonio ist zu aufgeregt dafür. Als
    wir auf dem Parkplatz ankommen, dirigiert mich An-
    tonio auf seinen Stammplatz, von dem wir nur noch
    etwa eine Viertelstunde zum Werkstor laufen müssen.
    Der Pförtner liest Zeitung und schaut erst auf, als An-
    tonio an seine Scheibe klopft.
    «Morgn Matzepan, wie isset?», fragt er. Dann er-
    staunt: «Wie siehst du dann us?»
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    «Eutis meine Ehretag», brüllt Antonio durch das
    blinde Sprechfensterchen in der Scheibe. Jemand hat
    die Löcher, durch die man sprechen soll, schon vor lan-
    ger Zeit mit Tesafilm zugeklebt, damit es nicht so zieht.
    Das ist ein deutsches Sprechfensterchen-Phänomen.
    Nach einer längeren Ansprache von Antonio drückt
    der Pförtner auf einen dicken grünen Knopf, und wir
    alle können passieren – ohne einen Besucherschein
    auszufüllen, wie Antonio mehrfach betont.
    Wir betreten das Verwaltungsgebäude, dessen
    schwarzer Granitboden teuer glänzt. Antonio eilt auf
    den Empfang zu und sagt zu der dahinter sitzenden
    Dame: «Gute Morgn, Sie schön Frau. Wir werden hier
    fur eine kleine Feier erwartet.»
    «Wie heißen Sie denn?», fragt die Frau. Ursula kniet
    sich auf den Granit und schlägt Antonios rechtes Ho-
    senbein nach innen. Da hat sich eine Nadel gelockert.
    «Marcipane, Antonio», sagt Antonio und zieht an
    seiner Krawatte.
    «Ach so, das sind Sie», sagt die Dame und nimmt ein
    Telefon zur Hand.
    «Herr Marcipane wäre jetzt da», sagt sie tonlos und
    legt wieder auf.
    «Bitte warten Sie hier noch einen Moment, Sie wer-
    den gleich abgeholt.»
    «Danke», sagt Antonio und verbeugt sich knapp. Wir
    warten also. Ich schlendere in der Halle herum und ent-
    decke eine Tafel mit Steckbuchstaben, auf der steht,
    was hier heute so los ist. Im Konferenzraum «Stock-
    holm» wird eine Firma Ginger erwartet. Im Raum «Pre-
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    toria» kommt es zu einem Treffen mit AHG-Nancy,
    und im Raum «Brisbane» findet eine Veranstaltung
    statt, die «Warcidane» heißt. Ich drehe blitzschnell das
    W und das d um, bevor Antonio kommt und begeistert
    auf die Tafel mit seinem Namen zeigt.
    Eine Aufzugtür öffnet sich, und heraus kommt ein
    Mann, der auf uns zu eilt und dabei die rechte Hand
    ausstreckt.
    «Giesecke», sagt er und blickt in die Runde. «Na, da
    sind wir ja gut aufgestellt.» Er gibt uns die Hand und
    mustert Antonio. «Wie sehen Sie denn aus?»
    «Schick, was?», sagt Antonio und strahlt Giesecke
    erwartungsfroh an.
    «Wo ist denn Ihre Arbeitskleidung, Herr Marcipa-
    ne?», fragt Giesecke mit unverhohlener Enttäuschung.
    «Hängt drüben im Spind.»
    «Na, dann mal los. Wir haben keine Zeit zu verlieren.
    Wir brauchen Bilder von Ihnen, wie Sie wirklich ausse-
    hen.»
    «I seh so aus.»
    «Na ja, das mag ja sein, aber nicht während der Ar-
    beit.»
    In diesem Moment kommt ein Kameramann in die
    Halle. Er wird von einem Tonassistenten und einer jun-
    gen Frau begleitet, die extra die Filmhochschule absol-
    viert haben, um nun einen kleinen Film zu drehen, in
    dem Antonio an seiner Arbeitsstelle sowie im Konfe-
    renzraum «Brisbane» zu sehen sein wird.
    Wir fahren in einem Kleinbus einen halben Kilome-
    ter über das Werksgelände und laufen dann durch ei-
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    nen langen Gang, an dessen Ende ein riesiger Umklei-
    deraum auftaucht. Antonio geht an seinen Spind, zum
    8104. Mal. Nachdem er den Anzug meines Vaters in
    den Schrank gehängt, seine Schutzkleidung angelegt
    und seinen Helm aufgesetzt hat, ist jede Form von Ele-
    ganz aus seiner Erscheinung verschwunden. Giesecke
    ist sehr angetan.
    Antonio wird gefilmt, wie er an seinem Arbeitsplatz
    steht und die Produktion überwacht, was entschieden
    spannender klingt, als es aussieht. Die junge Frau fragt,
    ob man nicht etwas machen könne, wo ein bisschen
    Bewegung drin sei, und Antonio beugt sich über ein
    Geländer und ruft einem Kollegen die Lottozahlen von
    gestern zu. Nach diesen brisanten Bildern will er sich
    wieder
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