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Antonio im Wunderland

Antonio im Wunderland

Titel: Antonio im Wunderland
Autoren: Jan Weiler
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ganze
    Weile, bis er zum Pförtnerhäuschen kommt, wo wir auf
    ihn warten. Diesmal muss er zu Fuß gehen. Niemand
    fährt ihn zu seinem Spind und wieder zurück. Als er
    nach einer kleinen Ewigkeit auftaucht, sind Ärmel und
    Hosenbeine aus ihren Verstecken gerutscht, was dem
    Anzug nicht gut tut, zumal es angefangen hat zu reg-
    nen. Toni trägt einen goldenen Helm, darauf steht sein
    Name und eine 37, Geschenk von den Kollegen, mit
    denen er noch einen Kleinen Feigling trinken musste.
    Zu Hause zieht er sich rasch um und setzt sich auf
    seine Hollywoodschaukel. Den Helm behält er den gan-
    zen Tag auf. In der Hand hält er das Vorhängeschloss
    von seinem Spind. Hat er mitgehen lassen, es ist ihm
    mehr wert als die Geschenke von Herrn Köther. Den
    Anzug bringe ich zum Altkleidercontainer. Mein Vater
    hat mich nie mehr danach gefragt.
    26
    ZWEI
    Ich kann meinen Schwiegervater wirklich gut leiden,
    aber Antonio ist mitunter sehr anstrengend. Das liegt
    an der ständigen Vermischung von Herkunft und Zu-
    hause bei ihm. Im Gegensatz zu den meisten Men-
    schen ist das bei Antonio nämlich nicht dasselbe. Er
    stammt aus Campobasso in Molise, einem sehr kleinen
    und selbst unter Italienern weitgehend unbekannten
    Bundesland, welches häufig vergessen wird, wenn man
    die Regionen aufzählt. Es hat insofern Ähnlichkeit mit
    Kurt Georg Kiesinger, der auch oft vergessen wird,
    wenn man die deutschen Bundeskanzler 1 rekapituliert.
    Molise ist gewissermaßen die Bandscheibe zwischen
    den Abruzzen und Apulien. Und die Hauptstadt von
    Molise ist Campobasso. Es gibt hier ungefähr 50 000
    Einwohner, eine sehr sehenswerte Altstadt sowie das
    internationale Museum für Miniaturkrippen. 400 Ex-
    emplare gibt es zu bestaunen, sogar eines aus dem
    Schwarzwald. Wem das zu aufregend ist, der kann sich
    in ein Café setzen und warten, dass die Amerikaner
    einmarschieren. Das haben sie vor rund sechzig Jahren

    1 Er war immerhin von 1966 bis 1969 Kanzler. Und im Dritten Reich Mitglied der NSDAP, was naturgemäß das Vergessen fördert. Ach, vergessen wir’s.
    27
    schon getan, und wer weiß, vielleicht ergibt es sich ja
    noch einmal.
    Von dort also ist Antonio weggegangen, das ist jetzt
    schon über vierzig Jahre her. Eigentlich wollte er da-
    mals nach Amerika, aber er ist dann letztlich bloß bis
    Krefeld gekommen, genauer gesagt bis nach Kempen,
    einem Ort am Niederrhein, der Campobasso in einigem
    ähnlich ist. Es gibt auch hier einen historischen Stadt-
    kern und nicht zu viele Sehenswürdigkeiten. Im Ge-
    gensatz zu Campobasso liegt Kempen aber nicht auf
    einem Berg, ganz im Gegenteil. Der Niederrhein ist so
    flach, dass man das Kartoffelkraut auseinander biegen
    muss, wenn man Kempen von der Ferne sehen will.
    Hier hat Antonio sein Häuschen gebaut, seine Kin-
    der zur Schule geschickt und seine Rentenansprüche
    erworben, also ist dies in vier Jahrzehnten sein Zuhause
    geworden. Aber Heimat? Das sind wohl die Gedanken,
    die er sich macht und die man manchmal schlecht ver-
    steht, weil er sein Deutsch immer mit Italienisch und
    Phantasiebegriffen würzt, deren Bedeutungen nur ihm
    bekannt sind. Meistens tragen sie nicht erheblich zum
    Verständnis bei.
    Die Marcipanes haben kaum Freunde, sie gelten
    als seltsam. Aber jeder grüßt sie freundlich, wenn sie
    in Ermangelung eines corso 1 über den Buttermarkt 1 In Italien hat jeder Ort einen corso . Das ist eine Rennstrecke für Spaziergänger. Man zieht sich gut an, setzt einen Hut auf und läuft stundenlang grüßend herum. Über den corso zu laufen ist ei-ne strikte Konvention und wird gern mit dem Kirchgang verbunden. In Deutschland entspricht dieser Verrichtung am ehesten 28
    laufen, einem kleinen Platz im Herzen von Kempen.
    Es ist ein beständiges Singen und Brummen in An-
    tonios Kopf, fortwährend schaltet er vom Italienisch –
    in den Deutschmodus um und wieder zurück. Er mag
    das dunkle Altbier, das sie hier trinken, und Sülze mit
    Bratkartoffeln. Aber vorher – vor jeder warmen Mahl-
    zeit – muss er Nudeln und dazu moussierenden Rot-
    wein haben. Es drängt ihn danach, sich seine elegante
    Cordjacke anzuziehen, wenn er das Haus verlässt. Nie
    vergisst er den passenden Schal dazu und erst recht
    nicht den Spritzer Duft, anhand dessen ihn Kenner auf
    vierzig Meter Entfernung identifizieren. Aber am Abend
    läuft er in einem aberwitzigen Trainingsanzug durchs
    Haus. Antonio liebt den rheinischen Karneval, auch
    weil er seine Frau da kennen gelernt hat, aber er
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