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Antonio im Wunderland

Antonio im Wunderland

Titel: Antonio im Wunderland
Autoren: Jan Weiler
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zu
    verpassen. Im Laufe der letzten Jahre waren Sara und ich
    Zeugen mehrerer Beerdigungen von uns nicht nahe ste-
    henden Personen aus Antonios Bekanntenkreis. Wir wa-
    ren bei Taufen, Richtfesten und einmal auch bei der Ni-
    kolausfeier seiner Abteilung, wo eine Quarkcreme-
    schnitte mit blonden Haaren einen Bauchtanz darbot,
    der aussah, als schüttele sie sich Blutegel vom Körper.
    Es handelte sich dabei um die Nichte des Schichtführers,
    eine durch und durch unorientalische Verwaltungsange-
    stellte aus Tönisvorst, deren Hobby ein bestürzendes
    Ausmaß von Selbstüberschätzung erkennen ließ.
    Obwohl diese Feiern und Feste und Familienangele-
    genheiten mir nichts bedeuten, gehe ich überall mit
    hin. Ich mag Antonios Fröhlichkeit. Ich mag es, wenn
    er mir zuprostet und wenn er Lieder singt. Ich sehe ihn
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    dann immer an, muss lachen und weiß, dass ihn das
    sehr glücklich macht.
    Diesmal herrscht dicke Luft, als wir ankommen,
    denn Tonis bester Anzug ist in der Reinigung. Ein
    Skandal. Ursula hat ihn weggebracht, das war vor zwei
    Monaten, und dann hat sie ihn vergessen. Es ist schon
    Abend, die Reinigung hat geschlossen. Ein Debakel
    zeichnet sich ab. Antonio läuft schimpfend durchs
    ganze Haus, ein desperater Zwerg in einem Flanell-
    hemd. Seine Frau verdirbt ihm seinen großen Tag, den
    Moment außerordentlichster Anerkennung. Schweine-
    rei. Seine anderen Anzüge passen nicht mehr. Oder sie
    gefallen ihm nicht, so genau ist das nicht aus ihm he-
    rauszubekommen. Er weigert sich, einen einzigen da-
    von auch nur anzuprobieren, und besteht auf seinem
    feinen Anzug. Da dieser nicht aufzutreiben ist, überle-
    gen wir, wie man Ersatz herbeischaffen könnte, wäh-
    rend Antonio oben im Schlafzimmer rumort.
    Bei den Nachbarn zu klingeln und Klamotten auszu-
    leihen verwerfen wir gleich. Es gibt zwar einen gewis-
    sen Herrn Plauen, der genau Antonios Statur hätte, aber
    Antonio verdächtigt ihn seit zwanzig Jahren, eine Affä-
    re mit seiner Frau zu haben, was ich für eine gewagte
    Unterstellung halte, weil Herr Plauen nicht nur Diabe-
    tes und eine künstliche Hüfte, sondern auch keinen
    Funken Charme und eine Glatze hat. Jedenfalls würde
    Antonio eher einen Volkshochschulkurs in Minnetanz
    belegen, als Plauen nach einem Anzug zu fragen. Und
    überhaupt: Ein Marcipane bittet andere nicht um Al-
    mosen, das ist mit seinem süditalienischen Stolz abso-
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    lut unvereinbar. Mitten in unsere Ratlosigkeit hinein
    betritt Toni das Wohnzimmer und blickt triumphie-
    rend in die Runde. Er hat eine Idee.
    «Pass ma auf, liebe Jung. Kenni einen, der kann mir
    der Anzug ausleihen.»
    «Und wer soll das sein?»
    «Gute Bekannter von dir. Deine Vater.»
    «Mein Vater.»
    «Ja, ist ein elegante Mann und hatter Geschmacke
    und bestimmt gute Anzuge auch.»
    Davon ist auszugehen, und ich bin sicher, dass mein
    Vater meinem Schwiegervater sofort aus der Bredouille
    helfen würde, wenn er nicht etwa zwei Köpfe größer
    als Antonio wäre. Hinzu kommt, dass Antonios Bauch
    bestimmt nicht unter das Jackett passt. Am Ende wird
    er aussehen, als bewerbe er sich auf der Moskauer
    Clownschule. Aber Antonio lässt sich nicht beirren,
    zumal es sich hier um eine Familienangelegenheit
    handelt. Dies ist ein Generalargument bei meinen ita-
    lienischen Verwandten. Ich habe inzwischen begriffen,
    dass in Familienangelegenheiten nie diskutiert werden
    darf. Da wird nur gehandelt. Und zwar sofort.
    Ich rufe meine Eltern an, berichte von der misslichen
    Situation und fahre hin, um das Tuch für den Festakt
    zu holen. Mein Vater stellt kaum Fragen und überlässt
    mir freundlicherweise drei seiner besten Anzüge, die
    ich in den Kofferraum werfe. Wie erwartet sieht Anto-
    nio in dem Nadelstreifenanzug meines Vaters aus wie
    ein missglücktes Zauberkunststück. Mit viel Mühe ge-
    lingt es Antonio, den obersten Knopf zu schließen,
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    worauf er entscheidet, dass die Jacke offen besser aus-
    sieht, weil dann seine Krawatte besser zur Geltung
    kommt. Ärmel und Hosenbeine hingegen sind massiv
    zu lang, für Antonio ein Beweis dafür, dass mein Vater
    beim Kauf des Anzugs wohl nicht so genau auf die
    Länge geachtet habe, was?
    Ursula krempelt die Beine und Ärmel nach innen.
    Zwar verschwindet auf diese Weise die Knopfleiste, aber
    Antonio hat schon oft Anzüge gesehen, an deren Ärmel
    gar keine Knöpfe waren, das sei total in Ordnung und er
    müsse das wissen, schließlich komme er aus dem Land,
    das die Mode erfunden hat. Ursula
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