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Antonio im Wunderland

Antonio im Wunderland

Titel: Antonio im Wunderland
Autoren: Jan Weiler
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umziehen, aber Giesecke findet, dass Antonios
    Aufzug doch sehr authentisch sei, und wir fahren wie-
    der zurück zur Hauptverwaltung, wo der Festakt statt-
    finden soll.
    Im Raum «Brisbane» haben sich immerhin zwei Ver-
    treter der örtlichen Presse eingefunden. Wir nehmen
    am Konferenztisch Platz. Antonio bekommt ein Fläsch-
    chen Orangensaft und ein Glas. Das ist sehr teurer Saft,
    raunt er mir zu. Feine Leute sind das, wenn sie den Saft
    aus so kleinen Flaschen trinken. Dann kommt Herr
    Köther, der Personalvorstand des Unternehmens. Wir
    erheben uns. Köthers Sekretärin trägt einen Präsent-
    korb und zwei Geschenke herein. Ihr folgen ein Vertre-
    ter des Betriebsrats sowie eine Gruppe von zwölf Män-
    nern in historischen Kitteln. Das ist der Werkschor –
    oder der Teil, der davon heute Zeit hat.
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    Herr Köther hält sich nicht lange mit Vorreden auf,
    er kommt gleich zur Sache.
    «Liebe Freunde, liebe Kollegen, liebe Familie Marci-
    pane, lieber sehr verehrter Herr Marcipane.»
    Antonio drückt das Kreuz durch.
    «37 Jahre, das ist ein halbes Menschenleben. Wir
    sind glücklich und freuen uns, dass Sie dieses halbe
    Menschenleben bei uns, nein, mit uns verbracht haben.
    Um ein Unternehmen in Zeiten wie diesen durch die
    Fährnisse eines immer schwierigeren Marktes zu navi-
    gieren, braucht es Visionen, Ideen und Leidenschaft.
    All diese Eigenschaften kennzeichnen dieses Unter-
    nehmen. Blicken wir einmal zurück. Vor 37 Jahren lag
    die Umsatzrendite unserer Firma bei neun Prozent. Ja,
    genau, neun Prozent. Ich weiß, was Sie jetzt sagen wol-
    len: Neun Prozent? Und ich wiederhole es: Neun Pro-
    zent.»
    Es folgt ein eindrucksvoll öder Monolog über die
    Auftrags- und Renditeentwicklung der Firma, garniert
    mit ein paar Spitzen in Richtung diverser Regierungen,
    Gewerkschaften und der Konkurrenz. Von Antonio
    kein Wort.
    «1981 sicherten wir uns gegen die fast übermächtige
    Konkurrenz aus Taiwan den Auftrag der BBL. Ich brau-
    che nicht zu betonen, wie sehr uns gerade diese Zu-
    sammenarbeit besonders im Lichte der Öffnung des
    osteuropäischen Marktes Horizonte …»
    Ja, das ist fesselnd. Ursula zupft an ihrem Kleid he-
    rum, Sara schaut aus dem Fenster, Giesecke macht sich
    Notizen. Antonio blickt Köther konzentriert in die Au-
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    gen. Woran mein Schwiegervater jetzt wohl denken
    mag? Der Kameramann hat seine Kamera längst ausge-
    schaltet.
    «… und wo wären wir ohne unsere phantastische Be-
    legschaft? Ohne Männer wie Sie, lieber sehr verehrter
    Herr Marcipane. Ich fasse nochmal zusammen: Vier-
    zehn Jahre an der Druckpresse zwo. Zwölf Jahre an der
    MKL. Und dann noch elf in der Produktionsüberwa-
    chung. Chapeau, Herr Marcipane, Chapeau.» Das ist
    das Einzige, was sich Personalvorstand Köther über
    Antonio abringen kann. Dann kommt er zum Schluss.
    «Und so rufen wir aus: Vivat, vivat, vivat. Und nun
    ein Lied, bitte.» Der Kameramann wacht auf und filmt.
    Der Werkschor, der drei seiner Mitglieder eingebüßt
    hat, die sich zwischendurch vom Acker gemacht haben,
    singt nun einen sehr schönen Arbeitersong in dringli-
    chem Gewerkschaftssound, in dem es um Eisen und
    Stahl und Stolz sowie um Freiheit und – wenn ich das
    richtig verstehe – Schlagsahne geht. Der Betriebsrats-
    vertreter, dessen Krawatte aussieht, als habe sich da-
    rauf jemand erbrochen, blickt zufrieden in die Runde,
    nachdem er zuvor während der Rede von Herrn Köther
    da und dort ostentativ den Kopf schütteln musste.
    Dann übernimmt Köther von seiner Sekretärin den
    Fresskorb und händigt ihn an Antonio aus. Des Weite-
    ren überreicht er eine Firmenchronik, damit Antonio
    noch einmal alles nachlesen kann, was er da gerade
    gehört hat, und eine CD vom Werkschor, dazu noch ein
    Skatspiel, denn er habe sich sagen lassen, dass Herr
    Marcipane ein großer Skatspieler sei. Stimmt nicht?
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    Ach so. Wirklich nicht? «Na, dann haben Sie ja jetzt viel
    Zeit, dieses schöne deutsche Kartenspiel zu lernen. Ich
    wünsche Ihnen viel Glück im Ruhestand und immer
    vier Buben auf der Hand.»
    Das mit den Buben in der Hand hat Antonio nicht
    verstanden. Er vermutet dahinter eine Sauerei, traut
    sich aber nicht, etwas zu sagen. Dann ist plötzlich
    Schluss, und wir werden aus dem Saal geschoben. Ich
    frage Giesecke, wann das denn nun im Fernsehen kä-
    me. Er sieht mich mitleidig an. Das sei für ein Unter-
    nehmensvideo, sagt er knapp. Er schicke eine Kassette.
    Antonio geht sich umziehen. Es dauert eine
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