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Anne in Avonlea

Anne in Avonlea

Titel: Anne in Avonlea
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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kann.«
    »Oh, Miss Shirley, was heißt das im Klartext?«, fragte Charlotta verwirrt.
    Anne lachte.
    »Im Klartext heißt das: Ein alter Freund von Miss Lavendar kommt sie heute besuchen.«
    »Sie meinen, ein früherer Verehrer?«, fragte Charlotta nüchtern.
    »So kann man es nennen - im Klartext«, antwortete Anne ernst. »Es dreht sich um Pauls Vater, Stephen Irving. Es steht in den Sternen, was daraus wird, aber hoffen wir das Beste, Charlotta.«
    »Ich hoffe, er heiratet Miss Lavendar«, lautete Charlottas eindeutige Antwort. »Bei manchen ist von vornherein klar, dass sie alte Jungfern werden. Ich fürchte, zu denen gehöre ich auch, Miss Shirley, weil ich keine Geduld mit den Menschen habe. Miss Lavendar war da immer ganz anders. Ich habe mir solche Sorgen gemacht, was um alles auf der Welt sie tun würde, wenn ich alt genug bin und nach Boston muss. Ich bin diejüngste in unserer Familie und nicht auszudenken, wenn sie eine Fremde nähme, die sie vielleicht wegen ihrer Einbildungen auslachen, die Sachen nicht an ihren Platz stellen würde und nicht Charlotta die Fünfte genannt werden wollte. Vielleicht bekäme sie auch eine, die nicht so ein Pechvogel ist wie ich und dauernd Geschirr zerdeppert. Aber nie und nimmer fände sie eine, die sie so gern haben würde.«
    Wie üblich tranken sie ihren Tee, aber niemand hatte groß Appetit. Nach dem Tee ging Miss Lavendar in ihr Zimmer und zog ihr neues sagenhaftes Organdy-Kleid an. Anne frisierte sie. Beide waren furchtbar aufgeregt. Aber Miss Lavendar tat so, als wäre sie die Ruhe selbst und als ginge sie das alles nichts an.
    »Morgen muss ich aber endlich das Loch in der Gardine nähen«, sagte sie und besah es sich, als wäre das im Augenblick das Allerwichtigste. »Sie hat nicht besonders lange gehalten, wenn man bedenkt, wie teuer sie war. Jesses, Charlotta hat schon wieder vergessen das Treppengeländer abzustauben. Ich muss wirklich ein ernstes Wort mit ihr reden.«
    Anne saß auf den Eingangsstufen, als Stephen Irving den Weg entlang und durch den Garten kam.
    »Hier steht die Zeit still«, sagte er und sah sich erfreut um. »Alles ist noch so wie vor fünfundzwanzig Jahren. Da fühlt man sich wieder jung.«
    »An einem verzauberten Ort bleibt immer die Zeit stehen«, sagte Anne ernst. »Nur wenn der Prinz kommt, ändert sich das.«
    Mr Irving lächelte ein wenig traurig und sah in Annes junges, erwartungsvolles Gesicht.
    »Manchmal kommt der Prinz zu spät«, sagte er. Er hatte Anne nicht gebeten, ihre Bemerkung im Klartext zu wiederholen. Wie alle verwandten Seelen »verstand« er.
    »0 nein, nicht wenn der wahre Prinz zur wahren Prinzessin kommt«, sagte Anne und schüttelte entschieden ihren roten Haarschopf, als sie die Wohnzimmertür öffnete. Als er eingetreten war, zog sie die Tür fest hinter ihm zu, drehte sich um und sah sich Charlotta gegenüber, die im Flur stand, mit dem Kopf nickte, Zeichen gab und gewunden lächelte.
    »Miss Shirley«, wisperte sie, »ich habe durchs Küchenfenster gelugt - er sieht blendend aus und passt auch vom Alter her genau zu Miss Lavendar. Miss Shirley, meinen Sie, es wäre schlimm, wenn ich an der Tür lausche?«
    »Abscheulich, Charlotta«, sagte Anne bestimmt. »Gehen wir, damit du erst gar nicht in Versuchung kommst.«
    »Tun kann ich nichts und diese Warterei ist fürchterlich«, seufzte Charlotta. »Angenommen, er macht ihr keinen Heiratsantrag, Miss Shirley? Bei Männern kann man da nie sicher sein. Meine älteste Schwester, Charlotta die Erste, hat mal gedacht, sie wäre mit einem verlobt. Aber er war da ganz anderer Ansicht. Seither traut sie keinem Mann mehr, sagt sie. Dann habe ich noch von einem Fall gehört, wo ein Mann ganz versessen auf ein Mädchen war. Zu guter Letzt stellte sich heraus, dass er die ganze Zeit die Schwester des Mädchens gemeint hatte. Wenn ein Mann nicht weiß, was er will, Miss Shirley, wie kann die arme Frau es dann wissen?«
    »Wir gehen in die Küche und putzen die Silberlöffel«, sagte Anne. »Dabei muss man zum Glück nicht denken - denn ich kann heute einfach nicht denken. Und die Zeit vergeht schneller.«
    Eine Stunde verging. Als Anne gerade den letzten geputzten Löffel hinlegte, hörten sie, wie die Vordertür zugemacht wurde. Sie sahen einander Trost suchend an.
    »Oh, Miss Shirley«, rief Charlotta entsetzt, »wenn er jetzt schon wieder geht, dann wird nie und nimmer etwas daraus.«
    Sie stürzten ans Fenster. Mr Irving war gar nicht im Gehen begriffen. Miss Lavendar
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