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Anne in Avonlea

Anne in Avonlea

Titel: Anne in Avonlea
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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Freundinnen«, sagte Anne nüchtern. Ihr war nicht anzumerken, dass sie bei Mr Irvings Frage von Kopf bis Fuß ein Schauer überlief. Anne »spürte instinktiv«, dass da die Liebe um die Ecke lugte.
    Mr Irving stand auf, ging ans Fenster und schaute auf das weite, golden schimmernde, wogende Meer, über das ein scharfer Wind fegte. Einige Augenblicke lang herrschte Stille in dem kleinen dunklen Zimmer.
    Dann drehte er sich um und sah mit einem halb neugierigen, halb liebevollen Lächeln Anne an.
    »Was wissen Sie darüber?«, sagte er.
    »Alles«, erwiderte Anne sofort. »Verstehen Sie«, erklärte sie hastig, »Miss Lavendar und ich kennen uns sehr gut. Sie würde es nicht jedem anvertrauen. Wir sind verwandte Seelen.«
    »Ja, das glaube ich auch. Nun, ich möchte Sie um einen Gefallen bitten. Ich würde Miss Lavendar gerne besuchen, wenn sie nichts dagegen hat. Würden Sie sie fragen?«
    Und ob sie sie fragen würde! Ja, das war wahre Liebe, wie in all den Gedichten, Geschichten und Träumen. Vielleicht kam sie ein wenig spät, wie eine Rose, die statt im Juni im Oktober blüht. Aber dennoch eine Rose mit all ihrem süßen Duft und einem golden schimmernden Kelch. Nie hatte Anne lieber einen Botengang gemacht. Am nächsten Morgen ging sie durch den Buchenwald nach Grafton. Miss Lavendar war im Garten. Anne war schrecklich aufgeregt. Ihre Hände waren kalt, ihre Stimme zitterte.
    »Miss Lavendar, ich muss Ihnen etwas ausrichten - etwas sehr Wichtiges. Können Sie sich denken, worum es geht?«
    Anne hatte nicht geglaubt, dass Miss Lavendar sich das denken konnte, aber die wurde kreidebleich und sagte mit unbewegter, leiser Stimme, ohne jede Munterkeit wie sonst: »Stephen Irving ist da?«
    »Woher wissen Sie das? Wer hat es Ihnen erzählt?«, rief Anne enttäuscht vor Ärger, dass ihr jemand zuvorgekommen war.
    »Niemand. Ich habe es dir an der Stimme angemerkt.«
    »Er möchte Sie besuchen«, sagte Anne. »Darf er kommen?«
    »Ja, sicher«, sagte Miss Lavendar aufgeregt. »Warum nicht? Er ist schließlich nur ein alter Freund.«
    Darüber war Anne anderer Ansicht. Sie stürzte ins Haus, um am Tisch die Nachricht aufzuschreiben.
    »Wie im Märchen«, dachte sie fröhlich. »Es wird, es muss natürlich gut enden und Paul hätte wieder eine Mutter ganz nach seinem Wunsch und alle sind glücklich. Aber Mr Irving wird Miss Lavendar mitnehmen. Was wird dann mit dem kleinen Steinhaus? Also hat das Ganze wie immer auch eine Kehrseite.«
    Die wichtige Nachricht war geschrieben. Anne ging höchstpersönlich zum Postamt in Grafton, wo sie den Postboten abfing und ihn bat, den Brief auf dem Postamt in Avonlea abzugeben.
    »Es ist etwas ganz Wichtiges«, versicherte Anne ihm besorgt. Der Postbote war ein ziemlich mürrischer alter Mann, der nichts von seiner Rolle als Amors Bote ahnte. Anne war sich keineswegs sicher, dass man sich auf sein Gedächtnis verlassen konnte. Aber er sagte, er würde sich alle Mühe geben daran zu denken, und damit musste sich Anne zufrieden geben.
    Charlotta die Vierte spürte, dass ein Geheimnis in der Luft lag - ein Geheimnis, von dem sie ausgeschlossen war. Miss Lavendar wanderte aufgewühlt durch den Garten. Anne war ebenfalls von einer teuflischen Unruhe besessen und ging auf und ab und hin und her. Charlotta die Vierte hielt es eine Weile aus, dann riss ihr der Geduldsfaden. Als Anne das dritte Mal ziellos durch die Küche wanderte, ging Charlotta die Vierte auf sie zu.
    »Bitte, Miss Shirley«, sagte Charlotta die Vierte und sah sie entrüstet mit ihren dunklen Augen an, »Sie und Miss Lavendar verheimlichen mir etwas, das ist nicht zu übersehen. Entschuldigen Sie, wenn ich das so offen sage - aber ich finde es gemein, es mir nicht zu erzählen, Miss Shirley. Wo wir die ganze Zeit so dicke Freundinnen waren.«
    »Oh, Charlotta, ich hätte es dir längst erzählt, wenn es mein Geheimnis wäre - aber es ist Miss Lavendars Geheimnis, verstehst du. Jedenfalls, so viel kann ich verraten - aber wenn nichts aus der Sache wird, darfst du nie auch nur ein Sterbenswörtchen darüber verlauten lassen. Nun, der Zauberprinz ist gekommen. Er kam einmal vor langer Zeit, doch in einem unglücklichen Augenblick ging er fort, wanderte weit weg und vergaß den Zauberpfad zum Zauberschloss, in dem die Prinzessin wohnte und sich die Augen nach ihm ausweinte. Schließlich erinnerte er sich wieder daran. Die Prinzessin jedoch wartet noch immer - weil niemand anderer als ihr geliebter Prinz sie herausholen
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