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Anne Frasier

Anne Frasier

Titel: Anne Frasier
Autoren: Marinchen
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herzuschicken.«
    Wählton.
    Ende des Anrufs.
    »Da ist sie ja«, sagte Ruby lauter.
    Es war die Stimme aus Ivys Albträumen, die Stimme des Schreckens.
    »Da ist sie ja!«
    Sie brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass er 348 nicht mit ihr redete. Mit hämmerndem Herzen, kurzatmig, riss sie ihren Blick für den Bruchteil von einer Sekunde von ihm los - lange genug, um in die Richtung zu schauen, in die er sprach.
    Auf einer Seite der Küche befand sich ein Kühlschrank - wahrscheinlich derselbe weiße, abgerundete Kühlschrank, der dort gestanden hatte, als Ivy hier zur Miete gewohnt hatte. Die Tür stand offen, das Licht fiel auf den Fußboden, kalte Luft quoll heraus, sank auf ihre Füße. In der Mitte befand sich ein Menschenkopf.
    Ihr Blick zuckte zurück zu Ruby, ihr Hirn weigerte sich, zu glauben, was sie gesehen hatte. Ruby war noch da. Sei ein braver Irrer, bleib einfach da. Rühr dich nicht.
    Ein Kopf. Ein verdammter Kopf im Kühlschrank.
    Nein.
    Ja.
    Sieh noch einmal hin. Du musst noch einmal hinsehen. Schnell. Schnell. Jetzt! Sieh jetzt hin!
    Die Augäpfel waren geschwollen. Strohiges, blutverkrustetes graues Haar umrahmte das Gesicht.
    Graues Haar. Nicht Ethan. Nicht Ethan.
    Wer dann?
    Der Mund war zu dem abscheulichen Signatur-Grinsen des Madonna-Mörders verklebt.
    »Da ist sie, Mutter. Sie ist gekommen. Wie ich es gesagt habe.« Seine Stimme veränderte sich plötzlich, sie wurde fröhlich und kindlich. »Schau nur! Schau nur!«
    Ivy starrte den Kopf an - sie konnte sich nicht davon losreißen - so entsetzlich faszinierend war er.
    Wenn man etwas sieht, was man nicht begreift, dann lässt einen das Unterbewusstsein immer weiter hinschauen, bis man es versteht. Ivy schaute und schaute ...
    »Sieh nur! Sieh nur!«
    Sie riss ihren Blick von dem grinsenden Kopf los, sie sah, wie sich das Kerzenlicht in etwas brach, was Ruby in der
    Hand hielt, was er in einer langen, geschmeidigen Bewegung auf sie zuschwang.
    Es traf ihr Handgelenk. Der Revolver fiel zu Boden wie ein Spielzeug. Ruby trat danach, und er wirbelte in die stinkige Dunkelheit davon.
    Ein Messer. Er hatte ein Messer. Wo kam das her? Hatte er es die ganze Zeit gehabt?
    Hitze drang in ihren Arm, und sie bemerkte, dass sie ihre Finger nicht mehr spüren konnte.
    Etwas spritzte auf ihr Bein. Sie dachte, dass sie sich eingenässt hätte, aber dann verstand sie, dass es Blut war.
    Ihre Hand. Nein. Sie war noch da. Blutbesudelt, aber noch da. Blut tropfte von ihren Fingerspitzen, die plop, plop, plop zu Boden fielen.
    Sie schaute auf und sah das Messer wieder auf sich zuschießen. Trat zur Seite, die Klinge traf nur ihren Arm.
    Das hatte sie doch alles schon einmal durchgemacht.
    Oder vielleicht bestand ihr Leben aus einer kranken Zeitschleife. Aber jedenfalls war sie hier, sie durchlebte noch einmal den Albtraum von vor sechzehn Jahren.
    Ihr Überlebenswille meldete sich. Sie packte seinen Arm - aber er war stark, so stark, seine Hände waren wie Krallen, seine Muskeln wie ein sehniges, straff gespanntes Seil. Während die Frau im Kühlschrank zusah, niemals zwinkerte, stolz grinste, stieß der Madonna-Mörder mit seinem Messer wieder und wieder zu, manchmal traf er sein Opfer, manchmal gelang es Ivy, auszuweichen.
    Sie stürzten zu Boden, fielen neben das Bett, Ruby obenauf.
    Als Ivy dort lag und ihr klebriges Blut an den eigenen Händen fühlte, spürte sie die Vergeblichkeit des Kampfes, sie spürte ihre Kraft und ihren Lebenswillen abnehmen. Es war ihr Schicksal, und das Schicksal konnte man nicht ändern. Sie hatte es versucht. Hatte sie es etwa nicht versucht?
    Sie wollte nur, dass endlich alles endete. Wollte, dass ihr Leben endete.
    Sokrates hatte gesagt, die perfekte Gesellschaft basiere auf einer großen Lüge. Die Menschen würden diese Lüge von der Wiege an hören, und sie würden sie glauben, denn die Menschen brauchen Ordnung im Chaos.
    Ivy hatte sich eine große Lüge eingeredet, eine Lüge, mit der sie gelebt und an die sie geglaubt hatte. Sie hatte gedacht, sie könnte etwas bewirken. Sie hatte gedacht, wenn sie genug lernte, wenn sie alles lernte, was sie über Männer wie Ruby lernen konnte, dann würde sie ihn fangen können.
    Aber ihr Baby war tot. Nichts würde ihn wieder zurückbringen.
    Ihr Baby war tot.
    Sie hatte sich selbst retten können, aber nicht ihr Baby.
    Sie war am Leben, ihr Baby war tot.
    Wäre sie nur vorsichtiger gewesen. Wäre sie nur stärker gewesen, schneller. Wäre sie nur in jener Nacht nicht
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