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Anne Frasier

Anne Frasier

Titel: Anne Frasier
Autoren: Marinchen
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dunklen Strudel der Psychopharmaka getrieben.
    Die Psychoklinik: eine Zeit, in der in seinem Hirn Nebel herrschte und ein Vorhang vor seinen Augen hing. Normalerweise war er ein schneller Denker, doch damals waren seine Gedanken wie zähes Motoröl gewesen, sie flogen davon wie Luftballons. Aber jetzt war er wieder klar im Kopf.
    Wenn er sie anschaute, konnte er beinahe ihr Frauenblut riechen, ihr Mutterblut, ihr Geburtsblut.
    Er drückte den Buchrücken fester an sich, fester, fester, er stöhnte vor Schmerz und Vergnügen.
    Seine Mutter hatte ihn beim Masturbieren erwischt, als er dreizehn gewesen war.
    »Du Drecksjunge«, flüsterte er jetzt mit hoher Stimme. »Du dreckiger; dreckiger Drecksjunge. Fass dich nie wieder so an, du Drecksjunge. Dreckiger Drecksjunge.«
    Er hörte ihre unsicheren Schritte im Zimmer über sich. Sein Gesicht lief rot an vor Scham. Seine Hände zitterten, als er das Album zuklappte, er presste es aber weiter an sich.
    Es war zehn Uhr morgens, und sie war schon halb besoffen. Sie war fast immer besoffen. Er mochte sie lieber, wenn sie besoffen war, denn nüchtern bekam sie zu viel mit. Sie starrte ihn mit ihrem wilden Blick an, und er fragte sich gleichzeitig, warum sie ihn so hasste und wie es sich anfühlen würde, sie umzubringen.

1
    Vor Ivy Dunlaps Schlafzimmerfenster ratterte ein Specht an den Holzfensterläden des Steinhauses.
    Verfluchtes Biest. Verfluchtes, nervtötendes Biest.
    Ihre Nachbarin Mrs Gafney hatte ihr gesagt, wenn sie eine Plastikeule in einer Gartenecke aufstellte, würde das die Spechte vertreiben. Aber Mrs Gafney streute auch Salz auf die Risse im Bürgersteig, um das Unkraut auszurotten, und korrodierte so den Zement, bis er sich in Staub verwandelte. Und sie aß ganze Kekspäckchen nach Mitternacht, obwohl die Krümel sie beim Schlafen störten, bloß weil im Enquirer stand, dass der Körper im Schlaf mehr Kalorien verbrannte.
    Mrs Gafney lebte eine halbe Meile weit weg. Im Winter konnte Ivy manchmal sehen, wie sich die Sonne auf dem Metalldach des Gafney-Hauses und des Schuppens brach, und in klaren Nächten schimmerte die Gartenleuchte wie ein freundlicher Gruß. Manchmal konnte sie sogar Mr Gafney nach seinen Milchkühen rufen hören, und ihre Glocken antworteten sanft, wenn die Tiere langsam in Richtung des frischen Heus und der Melkmaschinen trotteten. Aber im Sommer, wenn die Blätter an den Bäumen hingen und die Luft schwer vom Tau war, konnte Ivy beinahe vergessen, dass die Gafneys überhaupt existierten.
    St. Sebastian war ein freundlicher Landstrich mit reichlich Küstenlinien. Vierzig Meilen im Norden lag die Georgian Bay, im Süden der Eriesee. Im Westen Toronto und der Huronsee, im Osten der Ontariosee. Die Leute aus Toronto hatten Sommerhäuschen in St. Sebastian, aber nur wenige waren mutig genug, mitten im Winter herzukommen, wenn der Wind heulte und die Straßen manchmal tagelang unpassierbar waren. Nicht weit weg, in Bainwood, traf man angeblich Männer, deren Füße nach hinten zeigten. Ivy hatte sie nie gesehen, aber Mrs Gafney schwor, dass es sie gab.
    In diesem Teil Ontarios war das Land geformt worden durch Gletscher, die geduldig über die Welt gekrochen wären und die Steine rund mahlten. Kinder verbrachten ihre Sommer damit, diese Eiszeit-Überreste aus den Feldern der Bauern zu sammeln, sie stapelten sie hoch auf, bis ihre Nägel abbrachen und die Fingerkuppen bluteten. Es hieß, das« es in St. Sebastian keine scharfkantigen Steine gab, und davon war selbst Ivy überzeugt.
    Draußen ackerte der Specht immer weiter, er wechselte von einem Fensterladen zum anderen, suchte in allen nach Käferchen.
    Ivy lag da und lauschte. Vielleicht veränderte sich der Klang ihres Atems und verriet Jinx, dass sie erwacht war, denn der Kater hopste auf das Bett. Er war ein höfliches Tier, wartete immer, bis sie die Augen aufschlug, bevor er sie störte, bevor er auf Katzenpfoten über das Bett schlich und sich schließlich quer auf ihren Bauch legte und schnurrte, während sie ihn streichelte.
    Sie kraulte ihn unter dem Kinn, was er gern mochte, und redete dabei mir ihm. Sie sagte Sachen wie: »Du fauler Kerl, du magst die Aufmerksamkeit, nicht wahr? «
    Sie hatte nicht gewusst, dass sie eine Katzenfrau war, bis Jinx eines Winterabends vor ihrer Tür stand, als der Schnee sechzig Zentimeter hoch Jag und der Wind so heftig blies, dass der Ofen das Haus nicht mehr warm halten konnte. Er war halb wild, aber sein Hunger hatte ihn zeitweilig gezähmt. Sie
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