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Anne Frasier

Anne Frasier

Titel: Anne Frasier
Autoren: Marinchen
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ließ ihn herein und fütterte ihn, und er ließ sich in jener ersten Nacht von ihr streicheln. Aber am nächsten Morgen hatten die warme Milch und das Brot ihre Arbeit getan, und er verwandelte sich zurück in den Kater, der er gewesen war, bevor der Hunger ihn übermannte. Sie hatte versucht, ihn zu fangen, um ihn wieder hinauszuwerfen – die
    Sonne schien, der Wind hatte nachgelassen -, aber er verwandelte sich in einen gelben Strich und verschwand unter dem Vitrinenschrank, wo er für drei volle  Tage blieb. Sie versuchte, ihn mit warmer Milch herauszulocken, aber er rührte sich nicht. Sie bot ihm ein kleines Stückchen Schinken an, legte es knapp ausserhalb seiner Reichweite. Eine steife, gelbe Pfote schoss unter dem antiken Schränkchen hervor, angelte nach dem Schinken, zog ihn in die Dunkelheit.
    »Ich muss jetzt aufstehen«, sagte Ivy, schob den Kater zärtlich zur Seite und schlug die Bettdecke auf.
    In der Küche gab sie Milch in sein Schalchen, bevor sie sich welche über ihre Frühstücksflocken goss. Noch dem Frühstück lief sie drei Meilen auf dem Laufband, duschte, ging hinaus in den Garten. Sie pflückte gerade Erdbeeren, als sie das leise Klingeln des Telefons durch das offene Küchenfenster vernahm.
    Sie richtete sich auf und ging mit einer Schale voller Erdbeeren in der Hand in Richtung des Geräusches. Ihre Sandalen, feucht vom Morgentau, trugen sie über den steinernen Pfad, der vom Garten in die Küche führte. Drinnen klingelte das Telefon immer weiter. Sie griff nach dem Hörer und meldete sich zerstreut: »Hallo? «
    Am anderen Ende war eine Stimme, die sie seit Jahren nicht gehört hatte. Eine Stimme, von der sie sich gefragt hatte, ob sie sie jemals wieder hören würde. Sic gehörte Abraham Sinclair vom Chicago Police Department: dem Mann, der ihr geholfen hatte, unterzutauchen.
    »Es geht wieder los«, war alles, was er sagte. Und mehr musste er auch nicht sagen.
    Die Keramikschale, die sie auf einem Flohmarkt gefunden hatte, glitt aus ihren tauben Fingern, krachte auf die Steinfliesen, zerbarst. Erdbeeren rollten über den Boden, fanden Dunkelheit zwischen Spinnweben und Staub unter dem antiken Küchenschrank.
    Atmen, nahm Ivy sich vor. Atmen.
     
    Der Augenblick, den sie gefürchtet und zugleich herbeigesehnt hatte, ließ sie in die Knie gehen.
    »Claudia? Bist du da? «
    Claudia. Ein Name aus einem anderen Leben.
    »Ja«, sagte sie, und ihre Stimme klang erstaunlich kräftig dafür, dass sie zitternd auf dem Küchenfußboden kniete. »Ich ... ich bin hier. «
    »Es ist lange her. «
    »Ja.«
    »Wir brauchen deine Hilfe, aber ich kann verstehen, wenn du nichts damit zu tun haben willst. «
    Er wäre erleichtert gewesen, wenn sie gesagt hätte, dass sie alles hinter sich gelassen hätte, dass sie jetzt ein neues Leben lebte, dass sie verheiratet war und zwei wundervolle Kinder hatte. Mit einem derartigen Fantasieleben hätte sie ihm von ihrer sicheren, langweiligen und doch wundervollen Existenz erzählen können, wo sie sich das Schuljahr über mit anderen Müttern abwechselte, die Kinder zur Schule zu bringen, und im Sommer Gänseblümchenkronen flocht.
    Auf ihre Art war sie tatsächlich eine andere geworden, aber nicht so sehr, wie ihr lieb gewesen wäre. Denn sie hatte herausgefunden, egal wie gut die eigenen Absichten waren, man konnte keine tiefer gehenden Beziehungen eingehen, wenn man Geheimnisse hatte, die niemals ans Licht kommen durften.
    Plötzlich sah sie mit großer Klarheit, dass alles, was sie bisher getan hatte, nur die Vorbereitung für diesen Augenblick gewesen war. Unbewusst hatte sie all die Jahre auf einen Anruf gewartet, von dem sie hoffte, dass er nie kommen würde. Und all ihre Freunde, all die Jinxes und Vögel und Gärten und Schalen voll Erdbeeren in der Welt würden nie genug sein. Auf diesen Anruf zu warten - das hatte sie getrieben.
    über die Jahre hatte sie angefangen zu glauben, dass ihr neues Leben wahrhaftig war, ihr altes Leben vorüber. Aber schon jetzt, während sie den Hörer noch in der Hand hielt, verblasste das Leben, das sie so mühsam für sich in St. Sebastian aufgebaut hatte. Sie konnte die Freunde, die sie gewonnen hatte, die Menschen, die sie getroffen hatte, plötzlich nicht mehr genau vor sich sehen.
    Sie würde sich etwas ausdenken müssen, sie würde erklären, dass sie eine Weile weg musste, vielleicht weil sie sich um eine kranke Verwandte zu kümmern hatte. Ja, das konnte funktionieren. Die Gafneys konnten ihre Erdbeeren und
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