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Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Titel: Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
Autoren: George Neblin
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Zusammenkommen zu wiederholen, geschweige denn, eine nähere Bekanntschaft folgen zu lassen, zu einer gewissen Nachlässigkeit bei der Pflege meines Apartments geführt, so dass ich mich genötigt gesehen hatte, bei dem Concierge für Irinas Ersatz zu sorgen, was, so vermute ich, dazu geführt hatte, dass sie dem Arbeitsmarkt zurückgegeben worden war. Eine bedauerliche Unannehmlichkeit – für beide von uns.
    Nun betrachtete ich Rosa, die sich ein wenig hinunterbeugte, um mir den Tee einzuschenken, und dabei vielversprechende Einblicke gewährte. Der übliche Hunger stellte sich gleichwohl auch jetzt nicht ein. An diesem Morgen hätte ich ein Keuschheitsgelübde ablegen können, ohne in dessen Einhaltung Schwierigkeiten zu sehen. Allerdings hielt ich Keuschheitsgelübde für ebenso überflüssig wie die Narren, die sie ablegten.
    Nachdem ich mich gezwungen hatte, das Frühstück bis auf den letzten Bissen zu verschlingen, leerte ich mit krampfhafter Ruhe meinen Tee und Saft. Währenddessen studierte ich die Schlagzeilen der Zeitung. Für das Lesen der wichtigsten Artikel fehlte mir die Konzentration. Das Training, die Dusche und auch der Tee konnten gegen die ruhelose Nacht und die Anstrengungen der letzten Wochen nichts ausrichten. Ich fühlte mich dem Zusammenbruch nahe. Aber das war nicht ungewöhnlich.
    Meine Internatsjahre an der P.A., der Phillips Academy in Andover, waren mir damals hart vorgekommen, doch sie waren Urlaub gewesen im Vergleich mit dem Studium am Harvard College und anschließend an der Harvard Law School, das ich mit Auszeichnung abgeschlossen hatte. Im Büro war es noch schlimmer. Es wurden Höchstleistungen erwartet und ich hatte es bislang geschafft, Höchstleistungen zu liefern, Achtzig-Stunden-Wochen, permanente Erreichbarkeit und ein Umfeld des ständigen inner- und außerbetrieblichen Wettbewerbs klaglos absolviert.
    Hin und wieder benötigte ich die Unterstützung kleiner Helfer – Aufputschmittel wie Permadrin oder Beruhigungsmittel wie Mentacool –, die mich schon während des Studiums begleitet hatten. In letzter Zeit schien sich die Wirksamkeit der Präparate allerdings zu vermindern. Ich würde die Dosis weiter erhöhen oder mich nach Alternativen umsehen müssen. Kürzlich hatte ich von einem vielversprechenden Medikament auf Testosteronbasis gelesen, das in der Testphase war. An diesem Morgen entschied ich mich für zwei bläuliche Kapseln, die ich mit dem letzten Schluck Tee hinunter spülte.
    Ich bezahlte sowohl Samuels Rechnung als auch Rosa und ließ mir von ihr einen schönen Tag wünschen. Mit einem verträumten Lächeln sah sie mir nach, während ich mich auf den Weg zur Tiefgarage machte.
    Was für ein beneidenswertes Leben er wohl führt, mochte sie denken. Und sie hatte recht . Ich war auf dem besten Wege die Stufenleiter weiter und weiter nach oben zu klettern, mir einen Spitzenplatz in der großen Nahrungskette des Daseins zu erobern.
    Ich war jung. Ich war stark. Die Anspannung sorgte dafür, dass sich mein Magen zusammenkrampfte und ich das Gefühl hatte, eine tonnenschwere Skulptur von Botero würde auf meine Brust drücken. Aber ich verspürte keine Furcht. In mir brannte der Ehrgeiz, der unbedingte Wille, zu siegen.

3.   Kapitel

 
 
    Nach dem Frühstück ging ich zur Tiefgarage, setzte mich in das sattelbraune Leder meines Porsches und ließ den Motor an. Die Maschine reagierte mit dem typischen Gurgeln.
    Angesichts der Hitze ließ ich das Verdeck geschlossen, während ich den Weg von ungefähr einer Meile zur Clarendon Street zurücklegte, wo sich das Bostoner Büro meines Arbeitgebers, Westbury, Hawthorne & Clarke LLP, befand.
    Obwohl ich es an durchschnittlich sechs Tagen in der Woche aufsuchte, war das Gebäude immer einen Blick wert. Ein 245 Meter hoher, glasverkleideter Büroturm. Ein reflektierendes Monument der Bostoner Wirtschaftsmacht, das sein Inneres im Widerschein verbarg. Das höchste Gebäude der Stadt, unter den fünfzig höchsten Gebäuden der USA und unter den hundertfünfzig höchsten Gebäuden weltweit.
    Der Turm umfasste zweiundsechzig Stockwerke und war Anfang der 1970er Jahre für hundertneunzig Millionen Dollar errichtet worden. Niemals zuvor waren bei einem Bauwerk Glasscheiben in vergleichbarer Größe und Anzahl verwendet worden; die Kosten der Klimatisierung waren enorm. Das Schwanken, das in den oberen Stockwerken in früheren Jahren zu Höhenangst und Symptomen von Seekrankheit geführt hatte, war durch den Einbau von 600
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