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Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See

Titel: Annabell oder Die fragwuerdige Reise in das Koenigreich jenseits der See
Autoren: George Neblin
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Mitgliedschaft im Fitness-Club mit den üblichen Geräten, Pilates, Aerobic, Herz-Kreislaufüberwachung, Massagen, dem beheizbaren Indoor-Pool, Jacuzzi, Sauna, Solarium – das ich glücklicherweise nicht nötig hatte – und John.
    Nach dem Laufband folgte ein Workout mit Gewichten, danach ein paar Bahnen im Pool. Nachdem ich mein allmorgendliches Training abgeschlossen hatte, machte ich mich wieder auf den Weg nach oben.
    Die blonde Pilatesprinzessin im roten Top, die mich schon bei meinen Übungen beobachtet hatte und die nun wie zufällig mit mir in den Fahrstuhl stieg, dessen Boden ich ungeniert voll tropfte, bedachte ich nur mit einem kurzen Seitenblick. Obwohl ich sie nie zuvor hier gesehen hatte und appetitliches Frischfleisch gewöhnlich einen verzehrenden Hunger in mir weckte, machte mir nicht die Mühe, ihr aufforderndes „Hallo! Ich bin Monica“ zu erwidern, geschweige denn, den Kopf zu ihren üppigen Silikonimplantaten umzuwenden.
    Diese Art von Entspannung musste warten.
    Ich betrat mein Apartment und schritt durch mein Wohnzimmer, das mit roten Corbusier-Sofas, weißen Barcelona-Sesseln von van der Rohe, modernster Unterhaltungselektronik und Ölgemälden vielversprechender Talente ausgestattet war. Meine Vorgabe an die Innenarchitektin hatte ‚repräsentative Eleganz‘ gelautet.
    Im Bad trat ich unter die Dusche, die mir vom sanften Regenschauer bis zur Hochdruck-Rundumbestrahlung jede erdenkliche Duschvariante bot. An diesem Morgen entschied ich mich für Hochdruck.
    Obwohl mein Gehalt seit Längerem im sechsstelligen Bereich lag, reichte es leider (noch) nicht zur Finanzierung meiner Anforderungen an einen angemessenen Lebensstil aus. Glücklicherweise liebten die Banken aufstrebende Young-Professionals und zeigten sich großzügig. Ein Anruf meines Arbeitgebers hatte genügt, mir dieses Apartment zu sichern und der Händler hatte mir mein schwarzes 911er Porsche-Cabriolet ohne Zögern überlassen, nachdem er meine Visitenkarte mit seinem Datenbestand abgeglichen hatte.
    Zum Klang der Ouvertüre des Ballet Royal de la Nuit von Jean-Baptiste Lully rasierte ich mich, legte meine goldene Patek Philippe-Armbanduhr mit Jahreskalender und Mondphasenanzeige an und schritt hinüber in mein kleines Ankleidezimmer. Musik für den Sonnenkönig Louis XIV – der heutige Tag würde dazu beitragen, meine Sonne erstrahlen zu lassen.
    Ich entschied mich für einen mittelgrauen, nadelgestreiften Anzug mit tailliertem Dreiknopfjackett, dessen Hose selbstverständlich so hoch geschnitten war, dass sie nicht unter der Weste hervorlugte. Dazu wählte ich ein weißes Hemd mit hauchzartem blauen Streifen, Haifischkragen und Umschlagmanschetten, die ich mit doppelseitigen Goldknöpfen schloss, ferner eine nachtblaue Krawatte mit dunkelroten Punkten, ein dunkelrotes Einstecktuch, Kniestrümpfe und schwarze rahmengenähte Schuhe mit geschlossener Schnürung, spiegelblank poliert.
    Modische Experimente waren im Büro nicht gern gesehen und jeder, von der Sekretärin bis zu den Partnern, unterwarf sich dem unausgesprochenen Diktat der klassischen Eleganz. Es waren Details, wie der knöpfbare Jackenärmel, die Qualität des Tuchs und der passgenaue Schnitt, die bei Letzteren auf einen Maßschneider hindeuteten und dem geschulten Auge die hierarchische Differenzierung offenbarten.
    Ich betrachtete mich in meinem übermannshohen Ankleidespiegel und begutachtete mein von einer ausgefeilten Lichtinstallation umschmeicheltes Selbst:
    Es war nicht verwunderlich, dass die Menschen, mit denen ich in Kontakt kam, mich für attraktiv hielten. Ich war groß, schlank und durchtrainiert, hatte ein markantes Gesicht von natürlich gesunder Farbe. Mein hellbraunes, leicht gewelltes Haar, das nun auf der linken Seite gescheitelt war, war dicht, meine Augen von klarem Blaugrau. Mein Händedruck war fest. Ich war 32 Jahre alt. Wenn ich es darauf anlegte, fühlte mein Gegenüber sich wohl in meiner Gegenwart, hielt mich für charmant, intelligent, ohne aufdringlich zu sein, und für einen interessanten Gesprächspartner. Doch ich legte es nicht immer darauf an. Die meisten Menschen waren für mich alles andere als interessant.
    Nur ein Wort konnte mein Erscheinungsbild angemessen beschreiben: Makellos. Nicht ein Staubkorn verunzierte meine Schuhe, nicht ein Fussel meine Jacke. Die Bügelfalte meiner Hose stach messerscharf hervor. Die Krawatte saß in straffer Perfektion. Ein Krieger in strahlender Rüstung. Beeindruckend, Ehrfurcht
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