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Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Titel: Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
Autoren: Kendare Blake
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Mitschüler verweilen etwas länger bei mir, weil ich zwar neu bin, mich aber nicht unsicher bewege. Die Nummern auf den Klassenzimmern, an denen ich vorbeigehe, beachte ich kaum. Ich werde meine Klassenräume schon irgendwann finden, oder? Kein Grund zur Panik. Immerhin habe ich reichlich Erfahrung, in den letzten drei Jahren war ich auf zwölf Highschools. Außerdem habe ich etwas ganz anderes im Sinn.
    Ich muss mich in das soziale Netzwerk einklinken. Die Leute müssen mit mir reden, damit ich meine Fragen stellen kann und die richtigen Antworten bekomme. Wenn ich auf eine neue Schule komme, halte ich immer zuerst nach der Schulkönigin Ausschau.
    Jede Schule hat eine. Das Mädchen, das alles weiß und alle kennt. Ich könnte mich natürlich auch spontan mit dem Leithengst verbrüdern, aber darin war ich nie besonders gut. Mein Dad und ich haben nie Sportübertragungen gesehen oder Baseball gespielt. Ich kann den ganzen Tag mit Toten ringen, aber beim Rugby werde ich garantiert ohnmächtig. Mit Mädchen komme ich dagegen immer gut zurecht. Ich weiß selbst nicht genau warum. Vielleicht, weil ich die Ausstrahlung eines Außenseiters und einen wohldosierten brütenden Blick habe. Vielleicht ist es auch etwas, das ich manchmal im Spiegel zu entdecken glaube und das mich an meinen Vater erinnert. Oder ich bin einfach nur eine Augenweide. Jedenfalls suche ich in den Fluren, bis ich sie gefunden habe, lächelnd und von Mitschülern umschwärmt.
    Sie ist nicht zu übersehen. Die Königin der Schule ist immer hübsch, aber diese hier ist eine echte Schönheit. Sie hat blondes Haar von einem Meter Länge und Lippen in der Farbe reifer Pfirsiche. Kaum dass sie mich sieht, bekommt sie ein Grübchen im Kinn und lächelt mich an. Sie ist das Mädchen, das auf der Winston Churchill alles bekommt, was es haben will. Sie ist der Liebling der Lehrer, die Königin der Schulfeste und der Mittelpunkt jeder Party. Alles, was ich wissen will, kann sie mir sagen. Ich hoffe, sie wird es auch tun.
    Als ich vorbeigehe, ignoriere ich sie demonstrativ. Ein paar Sekunden später lässt sie ihre Freunde stehen und hüpft neben mir her.
    »Hallo, dich habe ich hier noch gar nicht gesehen.«
    »Wir sind gerade erst hierhergezogen.«
    Sie lächelt wieder. Sie hat makellose Zähne und warme, schokoladenbraune Augen, und sie ist ungeheuer entwaffnend. »Dann helfe ich dir, dich hier zurechtzufinden. Ich bin Carmel Jones.«
    »Theseus Cassio Lowood. Was sind das für Eltern, die ihre Tochter Carmel nennen?«
    Sie lachte. »Was für Eltern nennen ihren Sohn Theseus Cassio?«
    »Hippies«, antworte ich.
    »Genau.«
    Wir lachen zusammen, und ich muss mich nicht einmal sehr verstellen. Carmel Jones besitzt diese Schule. Ich sehe es an ihrem ganzen Gebaren. Als hätte sie noch nie im Leben niederknien müssen. Ich erkenne es an
der Art und Weise, wie die Meute davonstiebt wie ein Vogelschwarm vor einer umherschleichenden Katze. Dabei wirkt sie keineswegs überheblich oder dünkelhaft wie viele dieser Mädchen. Ich zeige ihr meinen Stundenplan, und sie erklärt mir, dass wir in der vierten Stunde zusammen Biologie und – noch besser – zur gleichen Zeit Mittagspause haben. Als sie mich an dem Klassenzimmer stehen lässt, in dem meine zweite Unterrichtsstunde stattfinden soll, zwinkert sie mir über die Schulter noch einmal zu.
    Highschool-Königinnen sind leider nur ein Teil des Jobs. Manchmal vergesse ich das.
     
    In der Mittagspause winkt Carmel mich zu sich, aber ich gehe nicht sofort rüber. Schließlich bin ich nicht hier, um eine Freundin zu finden, und ich will nicht, dass sie auf falsche Gedanken kommt. Trotzdem, sie ist ganz schön heiß, und ich muss mir vor Augen halten, dass diese Beliebtheit und Mühelosigkeit sie wahrscheinlich ungeheuer langweilig gemacht haben. Sie ist zu viel Tageslicht für meinen Geschmack. Um ehrlich zu sein, so empfinde ich praktisch alle. Was erwarten Sie auch? Ich ziehe andauernd um und verbringe meine Nächte damit, Erscheinungen zu töten. Wer kann da schon mithalten?
    Ich sehe mich in der Cafeteria um, präge mir die verschiedenen Cliquen ein und überlege, wer mich am ehesten zu Anna führen könnte. Die Gothic-Jünger kennen die Geschichte natürlich am besten, sind aber auch am unzugänglichsten. Wenn sie merken, dass ich
ernsthaft beabsichtige, den ortsansässigen Geist zu töten, habe ich wahrscheinlich im Handumdrehen eine Hilfstruppe von Jugendlichen mit schwarzem Lidschatten und Kruzifixen am Hals,
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