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Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)

Titel: Anna im blutroten Kleid: Roman (German Edition)
Autoren: Kendare Blake
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raus. Seit diesem Job mag ich das Gänseblümchen. Es hat nur etwas gedauert, bis ich mich an seine Begeisterungsfähigkeit gewöhnt hatte.
    Ich rief ihn sofort an, nachdem ich den Brief erhalten hatte.
    »Hallo, Mann, woher weißt du, dass ich es war?« Er klang nicht enttäuscht, sondern eher aufgeregt und hingerissen, wie ein kleiner Junge auf einem Konzert der Jonas Brothers. Er ist ein echter Fan von mir. Wenn ich es zulassen würde, dann würde er sich den Protonenblaster umschnallen und mir durch das ganze Land folgen.
    »Natürlich warst du es. Wie viele Versuche hast du eigentlich gebraucht, bis du die Buchstaben richtig hingekriegt hast? Ist das Blut überhaupt echt?«
    »Ja, es ist echt.«
    »Was für Blut ist es denn?«
    »Menschliches.«
    Ich lächelte. »Du hast dein eigenes Blut benutzt, oder?«
    Er schnaufte empört und scharrte mit den Füßen. »Hör mal, willst du den Hinweis jetzt haben oder nicht?«
    »Ja, mach schon.« Ich betrachtete den Papierfetzen. Anna. Natürlich war es nur ein billiger Trick, aber in Blut geschrieben sah ihr Name wunderschön aus.
    »Anna Korlov, 1958 ermordet.«
    »Von wem?«
    »Niemand weiß es.«
    »Und wie?«
    »Auch das weiß niemand genau.«
    Das hörte sich echt schwachsinnig an. Es gibt immer Akten und Ermittlungen. Jeder vergossene Blutstropfen zieht einen Rattenschwanz von Akten nach sich, der von hier bis Oregon reicht. Es ging mir gehörig auf die Nerven, wie er »niemand weiß es« so aussprach, als müsste man dabei eine Gänsehaut bekommen.
    »Woher weißt du es dann?«, fragte ich.
    »Viele Leute kennen ihren Namen«, erwiderte er. »Es ist Thunder Bays berühmteste Gespenstergeschichte.«
    »Gespenstergeschichten sind normalerweise genau dies: Geschichten. Warum verschwendest du meine Zeit?« Ich griff nach dem Zettel und wollte ihn zerknüllen.
Doch ich tat es nicht. Ich weiß auch nicht, warum ich so skeptisch war. Die Einheimischen wissen immer Bescheid. Manchmal sind sogar sehr viele Leute eingeweiht. Aber sie tun nichts dagegen. Sie machen den Mund nicht auf, sondern halten sich an die Warnungen und schnalzen nur mit den Zungen, wenn irgendein dummer Idiot unversehens in das Spinnennetz stolpert. So ist es einfacher für sie, so können sie beruhigt im Tageslicht leben.
    »So eine Art Gespenstergeschichte ist es nicht«, widersprach das Gänseblümchen. »Du erfährst nichts über sie, wenn du in der Stadt herumfragst, es sei denn, du fragst an den richtigen Stellen. Sie ist keine Touristenattraktion. Wenn du aber ein paar Mädchen auf einer Schlafparty belauschst, werden sie mit Sicherheit um Mitternacht Annas Geschichte erzählen.«
    »Ich gehe nicht so oft auf Schlafpartys mit Mädchen«, seufzte ich. Das Gänseblümchen hat das früher vermutlich getan. »Worum geht es denn überhaupt?«
    »Sie war sechzehn, als sie starb. Sie war die Tochter finnischer Einwanderer. Ihr Vater war tot, er ist wohl an irgendeiner Krankheit gestorben, und ihre Mom betrieb in der Stadt eine Pension. Anna war zu einem Tanzabend in der Schule unterwegs, als sie getötet wurde. Jemand hat ihr die Kehle durchgeschnitten, obwohl das eigentlich eine Untertreibung ist. Der Täter hat ihr fast den Kopf abgehackt. Angeblich trug sie ein weißes Partykleid, das völlig rot war, als man sie fand. Deshalb nennt man sie Anna mit dem blutroten Kleid.«
    »Anna mit dem blutroten Kleid«, wiederholte ich leise.
    »Manche Leute glauben, dass einer der Pensionsgäste sie umgebracht hat. Irgendein Perverser soll sie ständig angesehen und sich für sie interessiert haben. Er sei ihr gefolgt und habe sie blutend im Graben zurückgelassen. Andere behaupten, es sei ihr Tanzpartner oder ein eifersüchtiger Freund gewesen.«
    Ich holte tief Luft und riss mich aus meinem Trancezustand. Das war übel, aber sie waren alle übel, und dies war bei Weitem nicht das Schlimmste, was ich je gehört hatte. Howard Sowberg, ein Farmer aus dem ländlichen Iowa, hat seine ganze Familie mit einer Heckenschere getötet, wobei er abwechselnd stach und schnitt, wie es sich eben ergab. Die Familie bestand aus seiner Frau, seinen beiden kleinen Söhnen, einem Säugling und seiner betagten Mutter. Das war eine der schlimmsten Sachen, die ich je gehört habe. Ich war enttäuscht, als ich in Iowa feststellte, dass der Geist von Howard Sowberg nicht reumütig genug war, um sich weiter in der Nähe herumzutreiben. Es ist seltsam, aber oft werden eher die Opfer im Nachleben besonders unangenehm. Die wirklich bösen
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